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Mama! Vom Deutschen als Tonsprache

Deutsch sei keine Tonsprache, habe ich an der Uni gelernt. Ganz anders als Chinesisch – da kann ein Wort, je nachdem mit welcher Intonation (grob übersetzt, in welchem Singsang) es ausgesprochen wird, ganz unterschiedliche Bedeutungen tragen.

Ein Besuch in einem Anfängerkursus für Chinesisch führte mir zu Studienzeiten eindrucksvoll vor Ohren, wie unglaublich untalentiert ich als Mitteleuropäerin darin bin, solche Unterschiede zu hören und mir auch zu merken.

Aber seitdem ich Mutter bin, ist mir klar: das Deutsche ist in Nischen eben doch eine Tonsprache. Jede Mutter kann das bestätigen. Glaubt ihr nicht? Dann lest mal zu, wie viele Bedeutungen die Basisvokabel „Mama“ je nach Aussprache, Betonung und Melodie haben kann:

Chinesisches Zeichen Printed Style - Mama

„Bist du noch da?“-Sicherheits-Ruf

[mamaaa:?] Lautstärke: mittel, Länge: kurz, Intonation: fragend, aber freundlich, stark steigende Betonung auf zweiter Silbe. Wird häufig eingesetzt, um sich während des Spielens zu vergewissern, dass die Bezugsperson sich nicht ins Ausland abgesetzt hat, um dort Cocktails zu trinken und in Ruhe ein Buch zu lesen.

„Mist, hier klappt was nicht. Ich brauch Hilfe“-Wut-Ruf

[mAmA!] Lautstärke: mittel bis stark, Länge: sehr kurz, Intonation: erboste Betonung auf beiden Silben. Dient dazu, eigene Aggressionen auf die Bezugsperson zu übertragen. Schnelles Handeln ist angeraten, da sich dieser Ruf sonst innerhalb kürzester Zeit in einen „Tu endlich, was ich von dir will“-Ruf mit integriertem Trotzanfall (siehe unten) verwandelt.

„Mir ist langweilig“-Nerv-Ruf

[maaaamaaaaaaaaaa] Lautstärke: mittel bis gering, Länge: sehr lang, Intonation: extrem gedehnte Vokale, von denen der zweite ausklingend sehr lang gehalten wird. Besser nach der Mama rufen als gar nichts tun – dieser Ruf hat selbstregulierende Nebenwirkungen und verklingt in 50% der Fälle, ohne dass die Gerufene tatsächlich erscheinen muss. In den anderen 50% der Fälle steigert sich diese Variante zu dem bereits erwähnten „Tu endlich, was ich von dir will“-Ruf.

„Echter und höchster Alarm“-Not-Ruf

[MA!Maa:AAAA:!] Lautstärke: hoch und schrill, Länge: erste Silbe sehr kurz, zweite mit steigender Intensität und Länge gerufen, Intonation: massive Betonung auf beiden Silben, weder ansteigend noch sinkend, aber durch Intensität beeindruckend. Das Bein ist ab, jemand blutet, ist von der Schaukel gefallen oder ein Zahn ist ausgeschlagen worden. Ein Ruf, der durch Mark und Bein geht, und bei dem jede Mutter sofort ihr eigenes Kind heraushört, egal, wie viele andere Kinder zugegen sind. Ein Spurt an den Ort des Schreis erfolgt ohne großes Nachdenken und automatisch.

„Lauf nicht so schnell. Meine Beine sind müde“- Quengel-Ruf

[maamaa:öaaöaaöaa:] Lautstärke: gering bis mittel, Länge: erste Silbe kurz, zweite sehr gedehnt, Intonation: zweite Silbe wird in Anlehnung an Heulgeräusche produziert und kann in selbige übergehen, sich über mehrere Tonbögen ziehend. Sehr nervige Variante, die dazu verleitet, das Kind auf den Arm/in den Buggy zu nehmen, um dem Geräusch ein Ende zu setzen. Gelegentlich lässt sich der Ruf durch Austricksen oder Bestechung kurzfristig stoppen („Guck mal, da vorne ist dein Freund Soundso/eine Eisdiele/ein Eichhörnchen“). In seltenen Glücksfällen versiegt der Ruf, weil er nur aus Gewohnheit angetäuscht wurde.

„Nimm mich in Schutz vor Geschwister/Freund“-Solidaritäts- Ruf

[MaaMa] Lautstärke: mittel, Länge, mittel, Intonation: Betonung auf erster Silbe, zweite Silbe abfallend intoniert und recht kurz. Eine Variante, die man getrost überhören kann, da die Kinder nach etwa dreimaligem Rufen verstehen, dass keiner kommt und Streit schlichtet, und sich dann selbst um die Lösung des Konflikts kümmern. Was allerdings auch bedeuten kann, dass als Konfliktbewältigungsstrategie „Draufhauen“ oder „An den Haaren ziehen“ gewählt wird. Dann wird diese Rufvariante recht schnell durch den „Tu endlich, was ich von dir will“-Ruf ersetzt wird oder – selten – durch den „Höchster Alarm Notruf“. Meist kann man jedoch von friedlicher Konfkliktlösung ausgehen.

„Ich will was von dir“-Säusel-Ruf

[maamaAaAaA?] Lautstärke: leise, Länge:mittel bis lang, Intonation: Betonung stark auf zweiter Silbe liegend, die mit wechselnder Tonhöhe gesangsartig aufsteigend gedehnt wird. Klingt zuckersüß. Die Adressatin kann sich darauf verlassen, dass das Kind gleich ein Anliegen äußern wird. Es könnte um einen Übernachtungswunsch des besten Freundes gehen, eine Kugel Eis oder irgendetwas mit Lego, Playmobil oder Pfannkuchen. Geräuschlich die angenehmste aller Varianten des Mama-Rufs. Es gilt allerdings darauf zu achten, sich diesem Ruf gegenüber nicht zu versklaven. Denn wird dieser nicht wunschgemäß beantwortet, geht er extrem schnell in den:

„Tu endlich, was ich von dir will“-Ruf mit integriertem Trotzanfall

über. Diese Form ist sozusagen die „alle Wege führen nach Rom“ Variante des Mama-Rufs. [MMAAA:MMAAAA:!!] Lautstärke: extrem stark, Länge: lang, Intonation: starke Betonung auf beiden Silben, Tonhöhe gleichbleibend, mit starkem Druck zum Ausklang. Es empfiehlt sich im Normalfall nicht, nun dem Wunsch des Kindes zu folgen, da der „Tu endlich, was ich von dir will“-Ruf sonst als Standardruf eingesetzt werden könnte, womit sich weder Mutter noch Kind einen Gefallen täten. Hier sind starke Nerven gefragt. Durchatmen hilft, Notfalls das Zimmer oder den Supermarkt mit Kind unterm Arm verlassen, und daran denken, dass das Kind einen Haufen liebenswerte Seiten hat und herzallerliebst aussieht, wenn es schläft.

© funnymike1108 - Fotolia.com
© funnymike1108 – Fotolia.com

Nachtrag: Die Autorin hat Phonetik als zweites Nebenfach studiert und in der Magisterprüfung eine 1 erhalten. Sie entschuldigt sich ausdrücklich bei ihren Lehrkräften für diesen total inakzeptablen, dilettantischen Blogpost, insbesondere für die phonetische Transkription.

Und bei allen Papas auch. Denn selbstverständlich kann man dieses Beispiel auch mit [PaaaaPAAA!] durchdeklinieren.

Linktipp: Artikel in Wikipedia über Intonation.