Waren fremde Kinder schon immer so laut? Und muss der Mitarbeiter im Supermarkt mit dem scheppernden, vollbeladenen Rollwagen aus dem Lager unbedingt direkt auf mich zuhalten? Spielende Kinder vor meinem Küchenfenster probieren die Klingeln sämtlicher dort abgestellten Fahrräder aus, und ich schließe das Fenster, weil ich den Krach nicht ertrage.
Was ist mit mir los? Wieso bin ich so leicht reizbar, so empfindlich? Ich frage den Sohn, der mit mir im Supermarkt zum Einkaufen ist, ob ihn die herumtollenden, kichernden Kinder in den Gängen auch so stören, oder ob die heute besonders nervig sind. „Nein, Mama, die sind nicht lauter als sonst. Das liegt an dir“, gibt er mir zurück, und ich denke nach.
Das Leben mit autistischem Kind verändert mich. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Veränderung mag, oder ob es überhaupt in meiner Hand liegt, sie zu steuern, denn ich habe das Gefühl, dass ich viel weniger filtere als vor der Diagnose, die meine Jüngste (10) Anfang des Jahres erhalten hat. Vorher war sie überempfindlich und verhaltensauffällig, jetzt ist sie Asperger Autistin mit relativ hohem Pflegegrad, und ich weiß eine Menge Dinge über diese „Entwicklungsstörung“, die unter anderem aus der Abwesenheit von Filtern besteht, und die eine neurologische Besonderheit ist.
Seitdem ich mir vorzustellen versuche, wie die Welt für mein autistisches Kind ist, tut sie mir ein bisschen mehr weh als vorher. Ich bin, in Ermangelung eines Autismus-Begleithundes, so etwas wie ihr Begleit-Mensch, sie ist auf mich angewiesen, und ich versuche, ihr Situationen, die sie besonders belasten, zu ersparen. Denn diese führen dann am Ende in einen sogenannten Overload, einen Überreizungszustand, und schlimmstenfalls zu einem Meltdown, was ein Zusammenbruch ist.
(Und nein, man muss autistische Kinder nicht abhärten, das führt nur zu hoffnungsloser Überforderung und Verzweiflung!)
Alles erscheint mir lauter seitdem, ich höre, sehe, fühle und rieche mehr Sachen gleichzeitig, meine Sinne sind geschärft. Das ist anstrengend, und ich bin nicht einmal mit einem autistischen Gehirn ausgestattet, ich bin nur empathisch. Es gefällt mir nicht, aber abstellen kann ich es auch nicht.
Kürzlich, als ich die weiterführende Schule für die Jüngste besichtigte, ertappte ich mich dabei, wie eine Mischung aus Spürhund und Security durch das Gebäude zu laufen. Wo sind die Fallstricke, gibt es Bilder, die ihr Angst machen würden, Gerüche, die sie überwältigen, verkraftet sie den Kontakt mit krakeelenden Kindergartenkindern, die denselben Eingang benutzen?
Ich habe gelernt, was alles nicht geht. Und gelernt, was stört, sie ängstigt, und in den Ohren wehtut. Ich fühle mit. Die Welt ist kein schönerer Ort, wenn man sie so erlebt. Ich spüre den Schmerz meiner autistischen Tochter, wenn ihr Bruder (13) mit ihr Streit anfängt, weil er nicht wahrhaben will, dass ihr Autismus für immer bleiben wird, und ihr Verhalten kein Schreien nach Aufmerksamkeit und Extrawürsten ist. Ihre Fassungslosigkeit über das, was er ihr an den Kopf wirft, tut mir körperlich weh. Gleichzeitig weiß ich, dass auch er Schmerzen hat. Niemand hat Schuld, aber das zu wissen ändert auch nichts.
Autismus ist nicht ansteckend, aber Gefühle schon. Als Mutter, zumal noch alleinerziehend, von mehreren Kindern, ist das ein echter Spagat. Ich fühle mit dem autistischen Kind, ich fühle auch mit den Geschwisterkindern, die sich benachteiligt fühlen, ich reiße mir ein Bein aus, damit alle halbwegs klarkommen, und trotzdem reicht es an manchen Tagen nicht. Vielleicht ist es wirklich zu viel für einen einzigen Menschen? „Möglicherweise nicht zu leisten“, wie die Frau aus dem Jugendamt ganz am Anfang des Hilfeprozesses fragend in den Raum stellte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es so übermenschlich viel Kraft kostet. Und dass es keine einfachen Lösungen gibt.