Der Tod meiner Mutter hat mich aus dem Leben gerissen. Nicht sie wurde aus dem Leben gerissen – sie wollte nach langer schwerer Krankheit, wie man das zu sagen pflegt, gehen, und es war alles geplant, bis auf ein paar Kleinigkeiten am Schluss, die sie nicht hatte kommen sehen.
Ansonsten war es der perfekte Tod, genau so wie sie es wollte, in ihrem Zuhause, in ihrem eigenen Bett, sogar die Lieder für ihre Beerdigung hat sie uns noch diktiert und Kleidung für den Sarg herausgelegt. Meine Mutter ist so gestorben, wie sie gelebt hat: Sie sagte, wo es lang ging. Als sie noch sprechen konnte, gute zwei Tage vor ihrem letzten Atemzug, murmelte sie, als ich bei ihr auf dem Bett saß, die Beine unter ihrer Decke, weil sie sich das gewünscht hatte, es war gemütlich wie damals, als ich noch ein Kind war, „Es ist alles gut geregelt, ja?“, und ich antworte, dass sie alles sehr gut geregelt habe. Dann schloss sie wieder die Augen, denn am Ende sind die Menschen oft müde zwischen den Phasen, in denen sie nochmal kurz in der Welt vorbeischauen.
Es war nicht immer leicht mit meiner Mutter, und ich habe erst vor etwa 10 bis 20 Jahren gelernt, sie einfach so anzunehmen, wie sie war. Da hatte sie sich aber auch schon verändert, sie war weicher geworden, wirklich streng und unnachgiebig war sie nur noch sich selbst gegenüber. Ein Kind des zweiten Weltkriegs, das selbst ein höchst problematisches Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter hatte – sie verriet mir erst vor einigen Jahren, dass sie froh war, als ihre Mutter starb, und das zuzugeben, muss sie einiges an Überwindung gekostet haben -, ein traumatisierter Mensch, eine hoch begabte und als junge Mutter sehr einsame Frau, die an postpartalen Depressionen gelitten hatte, was in den 60er Jahren keine relativ normale Diagnose war, gegen die man etwas hätte tun können, sondern für ihren Arzt ein Grund zu sagen, sie solle sich nicht so anstellen, das Kind sei doch gesund, und ihr abhängig machende Beruhigungsmittel aufzuschreiben, die sie gleich wieder absetzte, weil sie sich damit so entrückt fühlte.
Sie war immer da, wenn man sie brauchte, sie war zupackend und hilfsbereit, und sie war großherzig. Nebenbei war sie wunderschön, ihr Leben lang und auch im Sterben noch. Dass sie nun nicht mehr da ist, ist, weil ihr Tod so lange dauerte, nämlich insgesamt fast 2 Jahre, auch gar nicht schwer zu begreifen, sie starb die ganze Zeit, in Kliniken, im Krebszentrum, in der Reha, in der nächsten Klinik, dann wieder Zuhause, aber zuletzt war sie noch mit meinem Vater im Urlaub an der Ostsee, im August, und sie ging noch ein letztes Mal im Meer baden, das sie immer so geliebt hatte.
Eigentlich ist also alles gut. Abgesehen davon, dass meine Mutter tot ist, und ich sie nicht mehr anrufen kann. Was nicht gut ist, ist das Gefühl, dass das Leben so bedeutungslos ist. Am Ende, egal was man tut, liegt man bestenfalls in seinem eigenen Bett, bekommt schmerzlindernde und glücklich machende Medikamente, und dämmert mehr oder weniger weg. Man wird immer weniger, bis die Seele langsam den Körper verlässt, und dieser nur noch ein kleines, zerbrechliches Häuflein ist. Ich war die letzten Tage und Wochen vor ihrem Tod alle zwei bis drei Tage da, in ihrem Garten, in ihrem Wohnzimmer, als sie dort noch sitzen konnte. Jedes Mal, das ich kam, war etwas weniger von meiner Mutter da, die am Ende nur noch 35 Kilo wog, und auch da bestand sie noch darauf, mich zur Tür zu bringen und mir nachzuwinken, bis 10 Tage vor ihrem Tod.
Das alles zu sehen, ist tatsächlich bis ins Mark erschütternd. Und dass mein Vater es ausgehalten hat, ihr die letzten Tage und vor allem Nächte Gesellschaft zu leisten, bis auf die wenigen Stunden, die mein Bruder und ich ihn ablösten, damit er mal raus kann, ist ein ungaublicher Liebesdienst. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, und ich weiß auch nicht, ob ich möchte, dass das jemand für mich tut. Es ist wirklich viel verlangt.
Sterbende Menschen machen Geräusche, sie wälzen sich herum, sie rudern mit den Armen, und ganz am Schluss wird der Atem rasselnd. Manche bekommen auch Panik oder werden orientierungslos, das war bei meiner Mutter zum Glück nicht so, aber ich hätte gut darauf verzichten können, am Abend bevor sie starb, das Zähneklappern zu sehen, das ihr Kiefer vollführte, es ist ein Bild, das mir nie wieder aus dem Kopf gehen wird.
Am Ende kommen wir alle in eine Kiste, sei es in die Erde, so wie sie es wollte, zurück zur Natur, oder in eine Urne, die versenkt oder verstreut wird. Und vielleicht ist dann nicht einmal mehr wichtig, wen wir geliebt haben und wer unsere Familie war, denn wir sind allein. „Was für eine interessante Tochter ich habe“, sagte meine Mutter bei einem der letzten Besuche, und dass sie sehr stolz auf mich sei. Nie war ich ihr so nah und so fern wie in den Tagen vor ihrem Tod. Aber ich war da, als sich mich brauchte, so wie sie für mich da war, wenn ich sie brauchte.
Das Sterben aus so großer Nähe zu begleiten, hat mich ein Stück weit aus dem Leben gerissen. Die alltäglichen Sorgen erscheinen so lächerlich auf einmal, sogar solche, die theoretisch groß sind, wie die Frage, ob und wie die autistische Tochter beschult werden kann, nachdem nun schon die zweite Schule nicht der richtige Ort für sie war (in beiderseitigem Einvernehmen), und auch ein Schulbegleiter für sie keine nützliche Hilfe ist. Oder wie die Diagnostik für ihren Bruder, der sehr wahrscheinlich auch zumindest am Rand des Spektrums zu verorten ist bzw. neurodivers, und all die Probleme im Zusammenhang mit der Schule, die damit einhergehen bei ihm. Es ist egal, ich werde das natürlich regeln, so wie ich bisher immer alles geregelt habe, aber ich nehme es nicht mehr ernst.
Eine Woche, bevor meine Mutter starb, lag sie auf dem Familiensofa im Wohnzimmer, und ich wusste, ich würde sie ab jetzt nur noch liegend sehen. Da wollte ich von ihr wissen, ob es noch etwas wichtiges gibt, das sie mir sagen wolle. Ich dachte an Lebensweisheiten oder einen Tipp, aber sie sagte mir etwas, das sie bereute. „Ich hätte früher nachsichtig sein sollen mit dir und deinem Bruder“, war was sie loswerden wollte. Es reute sie zutiefst, so streng gewesen zu sein, und so hohe Maßstäbe an uns angelegt zu haben. Als sie das sagte, fing ich an, sehr zu weinen, weil das wirklich etwas gewesen wäre, das mir meine Kindheit sehr viel leichter gemacht hätte, und vielleicht auch mein ganzes Leben. Aber sie starb, und so nahm ich sie in den Arm und sagte, dass alles gut so war, wie es war, denn das war das, was sie in dem Moment hören musste, und es war nicht einmal gelogen, denn ich weiß, sie hat es so gut gemacht, wie sie konnte. Die Familie war ihr Leben.
Sie hatte keine Angst, zu sterben, und sie hatte keine Schmerzen. Besser kann man kaum sterben, sagte das Palliativteam, das am Ende täglich vorbeischaute und auch bei der praktischen Pflege half. Und trotzdem ist Sterben so richtig Scheiße. Ich hatte es mir leichter vorgestellt, schneller, irgendwie eindeutiger, nicht als so einen langen Prozess. Jetzt ist die Frau tot, die mich in ihrem Bauch ausgetragen hat und auf die Welt brachte.
Das Gedächtnis meiner Kindheit liegt in einem Kiefersarg auf dem Dorffriedhof unter der Erde. Ich kann sie nicht mehr anrufen, um sie dies und das kurz zu fragen, oder um ihr zu erzählen, dass ich meine Olivenbäume winterfest gemacht habe und die Zweige gekappt. „Wenn du noch etwas wissen willst, musst du jetzt fragen“, hatte sie in den letzten Monaten immer wieder gesagt, aber ich wollte nichts fragen, weil ich nicht wollte, dass sie stirbt. Noch nicht, sie war doch so zäh, und immer so gesund gewesen! Und nun weiß ich nicht mehr, wie das Medikament hieß, das sie gegen die postpartalen Depressionen nehmen sollte, und ich kann sie nicht mehr fragen. Und wann mein Opa Otto gestorben ist, was ich gestern gerne gewusst hätte, als ich mit meinem Vater telefonierte, der sich aber auch nicht an das Jahr erinnerte.
Ist auch egal, even a pyramid won’t last, sangen schon Alan Parson’s Project. Welchen Sinn macht es dann, Dinge aufzuschreiben? Ich hab lange nicht mehr gebloggt, ich habe darüber nachgedacht, es komplett sein zu lassen, denn ich hatte das Gefühl, nichts zu sagen zu haben bzw. viel zuviel zu sagen zu haben, und da wieder eine Balance hinzubekommen, wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein. Dieser Text ist ein Anfang. Oder ein Ende.