Es war einmal ein Mädchen, das in der Stadt lebte, aber vom Dorf kam. Sein Herz war schwer angeknackst, aber das sollte keiner merken. Und so steckte das Mädchen viel Energie in ihr Studium, und zog nachts um die Häuser. Eines nachts – es war Silvester – fand sie sich im Keller eines Clubs neben einem Jungen sitzen, der ihr gefiel. Sie kannte ihn aus dem kleinen Dorf, er hatte kurz in einem Haus in der Nähe ihrer Eltern gewohnt, mit seinem großen Bruder und dessen wesentlich älterer Freundin, über die sich das Dorf das Maul zerriss.
Die beiden, das Mädchen mit dem angeknacksten Herzen, und der Junge, kamen ins Gespräch. Sie mochten sich. Und es begab sich, dass die zwei eine Nacht miteinander verbrachten, in der sie nicht schliefen, sondern die ganze Zeit miteinander redeten, bis die Sonne aufging, und das war, als hätten sie einen Tunnel durchquert und sähen das Licht. Sie fühlten sich zusammengehörig. Ihre Kleider legten die beiden dafür nicht ab, und sie rieben auch ihre Körper nicht aneinander, sondern ihre Seelen, und das erzeugte ein Bauchkribbeln, das stärker war als sogar die Verletzungen, die beide in sich trugen. Sie waren nun aneinander gebunden und blieben es für vier Jahre, in denen sie sich innig liebten, stritten, trennten, versöhnten, nebeneinander aufwachten und einschliefen, und oft dachten, dass ihre Kraft schwindet, weil sie so sehr damit beschäftigt waren, ihre Liebe im Zaum zu halten. Manchmal hassten sie sich mit der Inbrunst, mit der sie sich liebten, und das war fürchterlich.
Sie erzählten sich alles, wie sie es wahrscheinlich nie vorher und niemals nach dieser Liebe mit einem anderen Menschen getan hatten. Er erzählte von seinem Vater, seinem Bruder und seiner Mutter, und sie tat es ihm gleich. „Wir zwei gegen den Rest der Welt“, das war ihre Seifenblase, die schön und auch gefährlich schillerte.
Aber ihre Liebe stand unter einem ungünstigen Stern. Sie hatten beide zu viel Gepäck dabei, als dass sie hätten glücklich zusammen alt werden können. Sie pflegte Misstöne in der Beziehung damit zu beantworten, anderen Männern schöne Augen zu machen, und er hatte Laster, die sie als Süchte bezeichnete. Obendrein hatte sie eine anhaltende Schwäche für seinen Bruder, mit dem sie schon als Teenager über den Thresen des Campingkiosks, wo sie einen Ferienjob gehabt hatte, geflirtet hatte. Ein schlechtes Gewissen kannte sie nicht damals, sie fühlte sich als Getriebene, so wie ihr Liebster das auch tat, und auch darin waren sie geeint.
Je mehr sie sich in ihre Beziehung verstrickten, desto enger wurde ihre Bindung. Aber sie litten, und sie sahen, dass sie in einer Abwärtsspirale waren. Und so kam es, dass die beiden eines Tages im Herbst beieinandersaßen und viele Stunden weinten, weil sie sich trennten, und das beide so wollten, weil es keinen anderen Weg gab.
Das Mädchen zog in eine andere Stadt, noch am selben Tag. Diese Stadt war weit weg und richtig groß, und sie fühlte sich sehr allein. Sie war krank vor Traurigkeit, und sie zweifelte am Leben. Manchmal trafen sich die beiden noch, wenn das Mädchen seine Eltern im Dorf besuchte, und sie kamen sich fremd vor, was irgendwie beruhigend war. Vielleicht sollte aber auch nur keiner sehen, nicht einmal sie selbst, wie es in ihnen aussah?
Einige Jahre später traf das Mädchen einen anderen Jungen in der richtig großen Stadt. Der kam ihr vor wie der Junge aus dem Dorf, den sie geliebt hatte, nur gesünder. Sie war vorsichtig und wartete viele Nächte, bis sie die Morgensonne mit ihm aufgehen sah, und sie dachte an ihren Vorsatz „Wenn ich einen kennenlerne, der so ist wie der Junge, den ich liebte, aber gesellschaftlich funktioniert, dann heirate ich den“. Dieser Satz sollte ihr Unheil werden. Denn sie heiratete den anderen Jungen und bekam Kinder mit ihm. Als das dritte Kind zur Welt kam, zeigte ihr der andere Junge, den sie geheiratet hatte, sehr deutlich, dass er nicht gesünder war, sondern gefährlich. Und sie lebte fortan alleine mit ihren Kindern.
Oft träumte sie von dem Jungen vom Dorf, den sie geliebt hatte. Er tauchte immer wieder auf. Eines Nachts nahm er sie im Traum in den Arm und alles war gut, auch, weil der Bruder am Steuer war, der das Schiff durch die stürmische See steuerte, bevor es in den sicheren Hafen kam. Kurz darauf erhielt sie einen Anruf, es war der Bruder, den sie 15 Jahre nicht mehr gesprochen hatte, und er hatte kaum seinen Namen gesagt, da entfuhr es ihr schon: „Ist er tot?“. Woher sie das wisse, wollte der Bruder wissen, aber sie hatte es ja gar nicht gewusst, sie hatte nur 18 Jahre auf diesen Anruf gewartet.
Dann fuhr sie zur Trauerfeier und hatte Angst. Sie fürchtete sich davor, diesen Abschied zu nehmen, der unausweichlich war, weil dem Jungen vom Dorf eigenlich nur sein Körper in den Tod gefolgt war, und trotzdem weinte sie bitterlich in der letzten Reihe unter den wenigen Trauergästen. Sie wollte ihn nicht gehen lassen, und sie fühlte sich wie ein Klageweib, das schreien müsste, und sich rhythmisch wiegen, um ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen, aber so etwas tat man nicht in ihrem Kulturkreis, sie besann sich, und stolperte als Vorletzte aus dem Trauersaal, lange nach den Verwandten, ans grelle Sonnenlicht, um sich dem ebenfalls trauernden Bruder in die Arme zu werfen, der sie angerufen hatte, weil dieser Bruder als einziger – umständehalber – schon immer verstanden hatte, wie groß diese Liebe gewesen war.
Sie kam sich vor wie eine Witwe.
Aber das Leben geht weiter. Die Clique von damals fuhr in eine Kneipe und saß zusammen bei alkoholfreiem Bier (für die taffen Frauen), Pils (für die Männer) Cola und Milchkaffee (für die anderen), erzählte von ihren Kindern, ein bisschen von früher, und sie lachten, weil es schön war, noch einmal zusammenzusitzen.
Sie fuhr nach Hause, wo ihre Kinder bei ihren Eltern warteten, in dem Dorf, in dem alles angefangen hatte. Und sie fühlte sich frei.
P.S.: Als sie in die große Stadt gezogen war, begann er zu schreiben, und hörte nie mehr damit auf. Er schrieb dasselbe Buch in unendlichen Variationen und Verbesserungen.
„Eine derbe Sehnsucht, gespeist aus einem unbändigen Durchhaltevermögen, veranlasste ihn dazu, seine zeitweise sekündlich zuklappenden Lider geöffnet zu halten, um mit einem glasigen Blick etwas Erstrebenswertes einzufangen.“
Mike