Der Sturm hat sich gelegt, nun berichten noch einige Medien fundierter nach, wie gestern die „Stuttgarter Zeitung“. Am Donnerstag schlug sich die „ZEIT“ in einem Kommentar des Politikteils auf meine Seite, nido.de blickte differenziert auf die Reaktionen, und die taz machte mich zur „Lobbyistin der Woche“.
Ein paar Fachzeitschriften werden noch folgen, dann haben wohl alle überregionalen Zeitungen, Lokalzeitungen und sämtliche führenden Onlinepublikationen berichtet über meine Aktion, die Bundesjugendspiele abschaffen zu wollen. Viele fanden meine Idee absurd bis lächerlich. Ich stehe nach wie vor dahinter.
In den vergangenen Wochen habe ich bestimmt 200 Anfragen erhalten, alle wollten mit der sonderbaren Frau sprechen, die solch verquere Ideen hat. Ich habe einige Radiointerviews gegeben und auch im Fernsehen meine Frau gestanden, viele Anfragen schriftlich beantwortet, und mit denen, die ausführlicher nachfragen wollten, gesprochen.
Ich habe sehr bereut, den Sohn in die Sache hereingezogen zu haben, weil ich versäumte, den alles auslösenden Tweet zu löschen, und ich habe einen heftigen Shitstorm überstanden (nicht den ersten, auch beim Text über Armut wurde schon viel Hass und Häme über mir ausgeschüttet). Denn es ging nie um meinen Sohn oder die Schule, die er besucht. Es geht mir ums Großeganze, um einen Wandel in den Köpfen und neue Strukturen.
Weil die Kommentare, Fragen, Replies und Reaktionen sich so ähnelten, und ich teils fassungslos war über die Gedanken, auf die andere Leute kommen, folgt als Nachklapp nun noch eine Art Statement in Form von 10 häufigen Gegenargumenten/Unterstellungen und meinen Antworten.
Kommentare dazu werde ich nicht freischalten, damit hatte ich in den vergangenen zwei Wochen genug zu tun, auch und gerade auf Facebook. Und Anfeindungen auf twitter zu blocken („Du bist fett!“ oder „Kein Wunder, dass du alleinerziehend bist!“). Auch einen anonymen feindseligen Brief habe ich erhalten, und in einer von vielen bösartigen Mails und Facebooknachrichten wurde mir Gewalt angedroht. Das kann passieren. Aber es ist hässlich.
1. Und was ist mit Mathe/Kunst/Musik? Da können wir ja gleich alle Noten abschaffen!
Erstens: es gibt keine Mathewettbewerbe, an denen alle Schüler öffentlich teilnehmen müssen, vor den Augen der ganzen Schule. Das gleiche gilt für Kunst und Musik, wobei ich strenge Benotung nach Rastern in diesen beiden Fächern auch nicht besonders sinnvoll finde. Zweitens: den Schulsport würde ich tatsächlich gerne ohne Noten sehen, denn er sollte einen guten Zugang zum Körper vermitteln, als Ausgleich zum Alltag/Unterricht dienen, und langfristig Freude an Bewegung im Kind verankern. „Der Körper, das bin ich!“, schrieb eine Leserin unter meinen Text von vor 14 Tagen. Genauso sehe ich das auch. Sport hat enorm viel mit dem Selbstbild zu tun. (Dazu gibt es auch einen sehr guten Text im kleinerdrei Blog). Und es ist fatal, wenn sich beim Schulsport das Selbstbild zementiert, unsportlich zu sein.
2. Die Kinder müssen doch verlieren lernen – wie sollen sie jemals mit Niederlagen umgehen können?
Das Leben hält genügend Gelegenheiten bereit, den Umgang mit Niederlagen zu lernen. Muss das unbedingt beim Sport sein, bei einer öffentlichen Veranstaltung, der sich kein Kind entziehen kann? An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Umgang mit Niederlagen nicht zu den vom Kuratorium zur Ausrichtung der Bundesjugendspiele postulierten Ziele gehört. Im Gegenteil: da ist die Rede von „Freude an Bewegung“, „Gemeinschaftsgeist“ und „positiven Erlebnissen“.
3. Heute bewegen sich die Kinder sowieso zu wenig!
Eben! Da sollten wir sie ermuntern, sich sportlich zu betätigen. Gerade diejenigen, die scheinbar weniger sportlich sind oder untrainiert, muss man da abholen, wo sie stehen. Genau DAS ist einer der Hauptgründe, warum die Bundesjugendspiele kontraproduktiv sind. Abgesehen davon macht ein Tag im Jahr aus Bewegungsmuffeln garantiert keine Sportskanonen. Und frustrierende Erlebnisse dienen nicht der Motivation. Moderne Pädagogik arbeitet mit positven Anreizen und Bestärkung.
4. Das Leben ist nun mal ein Wettkampf. Und kein Ponyhof.
Das verstehe ich so: die Härte des Lebens soll sich auch im Sport wiederspiegeln? Sollte der Sport nicht eher ein Ausgleich zum ständigen Druck sein, dem schon unsere Kinder ausgesetzt sind? Ich jedenfalls denke, dass auch der Schulsport gründlich reformiert gehört, denn da haben wir dasselbe Problem: Diejenigen, die schon gut sind in einer Sportart, heimsen die guten Noten ein. Die anderen ertragen den Sport oder hassen ihn. Dabei sollte der Schulsport doch Freude an der Bewegung vermitteln. Wenn man das „Ponyhof“ nennen will, dann ist das in meinen Augen fast zynisch.
5. Wieso bist du nicht über den Elternbeirat gegangen? Oder hast mit der Schule gesprochen?
Weil es mir nie um eine konkrete Schule ging. Und auch nicht um meinen Sohn, obwohl seine Reaktion auf die Bundesjugendspiele mich auf die Idee brachte, etwas zu ändern. Aber wenn ich jedes Mal eine Petition starten würde, wenn mein Sohn wegen etwas traurig ist, dann hätte ich viel zu tun. Ich habe das Kind getröstet, ihm erklärt, dass sein Wert als Mensch nicht davon abhängt, ob er gut in Leichtathletik ist, und dann war die Sache gegessen für ihn. Aber ich habe in den Social Media gemerkt, was für ein Riesenthema die Bundesjugendspiele sind, und daraufhin beschlossen, dass ich die Diskussion darüber, ob sie noch zeitgemäß sind, in der Breite führen will. Nicht mit Politkern, nicht mit Elternbeiräten und Schulleitern, sondern mit ganz Deutschland. Das hat geklappt – um ein vielfaches besser, als ich dachte.
6. Man muss nur trainieren, dann hat man auch Erfolgserlebnisse.
Nun ja. Also zum einen werden viele Schüler am Tag der Bundesjugendspiele einfach auf den Sportplatz gestellt und sollen dann etwas können, was im ganzen Jahr nicht trainiert wird. Zum anderen haben die Kinder unterschiedliche Talente, verschieden lange Beine, einen jeweils anderen Körperbau. Verbessern kann man sich bestimmt durch Training – aber dann machen die starren Bewertungstabellen nach Alter keinen Sinn, mit denen die Kinder gemessen werden. Sollten wir nicht eher Fortschritte loben als das Gefühl zu festigen, ein „Minderleister“ zu sein?
7. Es gibt doch gar keinen Zwang zur Teilnahme an den BJS. Viele Schulen machen ein Sportfest.
Stimmt nur halb. Es gibt keinen Zwang für Schulen, die Bundesjugendspiele zu veranstalten. Aber wenn sich die Schule zur Teilnahme entschlossen hat, dann müssen auch alle Kinder mitmachen. Sportfeste sind sicher eine feine Sache, wenn dort weniger der Wettbewerbs- als der Gemeinschaftsgedanke zum Tragen kommt.
8. Wir dürfen unsere Kinder nicht in Watte packen, die kommen später nie im Job zurecht!
Moment mal. Kinder nicht einer öffentlichen Demütigung aussetzen zu wollen (und zwar doppelt: zuerst beim Sport selbst und dann bei der öffentlichen Bekanntgabe der Ergebnisse) ist etwas ganz anderes als Kinder in Watte packen zu wollen. Ganz ernsthaft, das kann doch keiner wollen. Aber Rücksicht auf die Gefühle der Kinder können wir schon, das finde ich nicht zu viel verlangt. Abgesehen davon ist die Argumentation, die Bundesjugendspiele dienten der Vorbereitung auf den Job, absurd.
9. Nur weil ein paar Kinder das nicht toll finden, müssen wir doch nicht allen den Spaß verderben!
Vorsichtig geschätzt folgere ich aus dem Umfragen im Anschluss an die Petition, dass 10-15% der Schüler bei den Bundesjugendspielen richtiggehend leiden. Kehren wir also das Argument einmal um: Nur weil sich 15% richtig toll dabei fühlen und 70% der Sache gleichgültig gegenüberstehen, müssen andere leiden? Das kann’s doch auch nicht sein. Also plädiere ich für Freiwilligkeit bei der Teilnahme als Minimalkonsens. Dann können diejenigen, die gerne mitmachen wollen, Sport betreiben. Und die anderen bei der Ausrichtung der Spiele (die kein „Spiel“, sondern ein Wettkampf sind!) behilflich sein.
10. Typisch Helikoptermutter.
Alle Leute, die mich persönlich kennen, haben herzlich gelacht. Denn ich bin eher eine Rabenmutter, die ihren Kindern zu viel Freiraum lässt (sie entscheiden selbst, wann sie schlafen gehen, was sie essen, ich mache nie Hausaufgaben mit ihnen und weiß auch nicht immer, ob sie ihre Zähne geputzt haben). Als berufstätige Alleinerziehende habe ich überhaupt keine Zeit und schon gar keine Nerven zum Helikoptern. Meine Kinder sind, wie die vieler Alleinerziehender, sehr früh sehr selbstständig gewesen. Wenn man mir etwas vorwerfen kann, dann dass ich sie gelegentlich zugunsten meiner Arbeit vernachlässige. Und nein, die Aktion war keine Überkompensation in die andere Richtung.
Ach, und ein Wort noch: Ich habe kein Geld bekommen für all die Interviews. Im Gegenteil, finanziell war das für mich eine heikle Angelegenheit, denn die vergangenen beiden Wochen war ich fast ausschließlich damit beschäftigt, diese Aktion zu begleiten. Für eine Freiberuflerin bedeutet das einen finanziellen Nachteil. Jeder Tag, den ich nicht arbeite, kostet mich Geld. Aber das hält mich weder davon ab, als Stadträtin tätig zu sein, noch mich in Angelegenheiten einzubringen, die unsere Kinder betreffen. Die sind mir nämlich wichtig.
Last not least: Hier ist keiner „fett“ oder unsportlich. Und selbst wenn jemand Übergewicht hätte, wäre meine Position nicht anders.