Mutmaßungen über den NaumBurger
Wenn ich ihn mir auf seinem Kinderfoto so anschaue, dann muss er ungefähr mein Jahrgang sein, ein paar Jahre jünger wahrscheinlich, vielleicht so alt wie mein Bruder; ich tippe auf Jahrgang 1970. Aber die Qualität des Bildes ist eine andere, als ich sie aus meinen Kinderfotoalben kenne, also vermute ich beim NaumBurger eine Kindheit in Ostdeutschland, da sind unbekannte Farben und es ist nicht das typisch westdeutsche Kinderfoto mit einem Telefon vor hellem Hintergrund. Ob er aus Naumburg an der Saale stammt? Ja, ich denke schon. Nach Hessen (das wäre das andere Naumburg) sehen seine Bilder auf Instagram nicht aus. Und der Fluss, der oft zu sehen ist, könnte gut die Saale sein.
Ich sehe ihn in der Literatur- oder Buchbranche, vielleicht auch in der Vermittlung von Wissen an der Hochschule. Ein Mann Mitte 40, der Chucks trägt und alleine lebt. Seine Einsamkeit trägt er auf twitter vor sich her wie andere eine Trophäe, er hat sie zum Kult gemacht, indem er Selbstgespräche mit der imaginären Bäckerin postete. Die Bäckerin und das, was er auf twitter macht, ist Poesie, so schreibt es auch der NaumBurger selbst in einem Tweet aus dem November 2013: „Sie reden wirr.“ „Das ist Poesie […]. Nach einem uralten Familienrezept.“ Er kommt also aus einer Familie der Dichter und Denker.
Das Denken scheint seine Passion, sein Zwang, auch sein Unglück. Er liest die Philosophen (Wittgenstein, Nietzsche, Strindberg) und Klassiker (Bukowski, Uwe Johnson, Goethe, Fitzgerald, Frisch), er liest und liest und liest. Mit Menschen interagiert er weniger, so scheint es. Höchstens, um Gespräche am Nachbartisch zu belauschen oder den Twitterern – distanziert und poetisch – eine gute Nacht zu wünschen. „Schlafen sie gut ein, ich [Verb] noch eben [diesunddas], damit Sie gut schlafen können.“
Geboren ist er im Juni, am 28.6. Das verrät uns ein Geburtstagsgruß mit Foto. Im Juni scheint er (wie ich) gleichermaßen unter Lebenshunger wie Melancholie zu leiden: „Ich warte auf den Sommer – schon mein ganzes Leben lang“, schreibt er am 3.6.2014. Sein Selbstverständnis erklärt er auf twitter zwei Monate vorher so: „Ich bin einer von denen, der die Welt erklärt, ohne sie zu kennen.“
Der NaumBurger twittert seit Oktober 2011, insgesamt erst 1677 Tweets hat er verfasst. Aber schon 185.000 Favs verteilt, das ist enorm viel – er liest offenbar intensiv mit und besternt gerne. Mal schreibt er ein paar Tage nichts, mal gibt’s mehrere Tweets am Tag. Im Oktober 2013 hat er sich für immer von twitter verabschiedet, um dann am 13. Oktober doch wiederzukehren. Mittlerweile folgen ihm 4812 Leute, er selbst folgt 380 Twitterern.
Ach, und einen Blog gibt es auch. In Naumburgers Blog finden wir nicht viele, jedoch literarisch dichte Einträge, unter anderem auch einen Brief an die Bäckerin aus dem Mai 2013. Der neueste Eintrag stammt aus dem Januar 2015, der älteste ist ein Gedicht aus 2011, das er im Februar 2012 dort postete.
In meiner Vorstellung ist er jemand, der langsam spricht und seine Worte abwägt, ganz anders als ich. Einer, der sich lieber im Hintergrund hält und der das Telefonieren hasst. Ich glaube, ich würde ihn mögen, wenn ich ihn treffen sollte.
Meine Lieblingstweets vom NaumBurger
Die ich wegen der Bitterkeit liebe, die unter der sanften Oberfläche lauert (ich konnte bis März 2013 zurücklesen):
Wie wir uns hier fortwährend mit Gedanken bewerfen, dass da ab und an jemand „Aua!“ ruft, ist wohl verständlich.
— Naum Burger (@Naum_Burger) June 6, 2015
Bäckerin: Demonstrierst Du? Ich: Da muss man weite Strecken laufen. Bäckerin: Du bist so träge. Ich: Bei mir findet alles im Kopf statt. — Naum Burger (@Naum_Burger) May 1, 2015
Im Boot über den See fahren, die Hand ins Wasser halten, weil man eine Spur hinterlassen will, um später wieder heimwärts zu finden. — Naum Burger (@Naum_Burger) April 10, 2015
Bäckerin: Gut geschlafen? Ich: Ich habe mich verträumt. Bäckerin: Man kann falsch träumen? Ich: Ja, wenn man es merkt, wird man traurig. — Naum Burger (@Naum_Burger) March 25, 2015
Bäckerin: Uns fehlen die Worte. Ich: Lass sie uns suchen. Bäckerin: Nur wo? Ich: Im Ungesagten. Bäckerin: Liegt das zwischen den Zeilen? — Naum Burger (@Naum_Burger) February 27, 2015
Bäckerin: Woraus sind wir? Ich: Wir sind aus Fantasie. Bäckerin: Wir leben nicht wirklich? Ich: Das geht auch vielen echten Menschen so. — Naum Burger (@Naum_Burger) January 11, 2015
Bäckerin: Na? Ich: Selber nah. Bäckerin: Du bist näher. Ich: Das habe ich nie gelernt. Bäckerin: Nicht Näher – näher. Ich: Ich weiß. — Naum Burger (@Naum_Burger) February 5, 2015
Fragen an den NaumBurger
1) Und – wie nahe bin ich dran, am echten NaumBurger?
Recht nah, obzwar ich nicht ganz so alt bin und nicht an einer Hochschule Wissen verbreite, trifft vieles von dem, was da in den „Mutmaßungen“ zu lesen ist, zu. Dass all meine Liebe sich auf Bücher erstreckt, vorzugsweise auf die alten und in Vergessenheit geratenen Werke, stimmt. Da ich das mit einer obsoleten Bessenheit ausübe, bin ich sehr einsam und allein, worunter zu leiden ich aber fast gänzlich verlernt habe. Ich wohne nicht in Naumburg sondern in Duisburg. Auf Twitter teile ich mich so selten mit, weil ich glaube, dass all den Glücklichen und Erfolgreichen da nur ab und an ein Kurzbericht aus meiner Welt reicht.
2) Verraten Sie mir, was das für eine Unterschrift ist auf Ihrem Twitter-Headerbild?
Das ist die Unterschrift von Arno Schmidt, für mich einer der wichtigsten Schriftsteller in meinem Leben, es lässt sich sagen, dass ich durch ihn eine andere Sicht auf die Literatur erhielt und immer wieder erhalte, wenn ich seine Werke lese, viele Autoren, an die schon niemand mehr dachte, hat er aus der Versenkung geholt, Hackländer, Gutzkow, aber auch seine Übersetzungen sind großartig, er übertrug zum Beispiel den Roman „Die Frau in Weiß“ von Wilkie Collins oder etliche Werke von E. A. Poe ins Deutsche.
3) Welche Art von Humor mögen Sie? Worüber lachen Sie?
Harald Schmidt hat mich zumeist gut unterhalten und oft lachen lassen. Inzwischen ist er leider nicht mehr auf Sendung und ich bedauere das sehr.
Worüber ich nicht lachen kann: Monty Python oder Mr. Bean.
4) Haben Sie Freunde unter den Twitterern? Kennen Sie einige persönlich? Oder halten Sie twitter aus Ihrem RL fern?
Ich schreibe täglich mit @akkordeonistin, wir haben uns noch nie getroffen, tauschen uns aber seit Jahren jeden Tag via WhatsApp aus. Sie lebt in der Schweiz, ich lebe in Duisburg, wir schauen gemeinsam Filme und lesen von Zeit zu Zeit gemeinsam einen Roman, das geht sehr gut, obgleich so viel Raum zwischen uns ist.
Ich habe mich noch nie mit einem Menschen von Twitter getroffen.
5) Sie wirken in sich gekehrt und nachdenklich. Und wie sind Sie im echten Leben?
Ich bin im „echten Leben“ exakt so, wie man mich auf Twitter liest, in mich gekehrt, grübelnd, nachdenklich und ruhig – es gibt natürlich keine Bäckerin, die habe ich eigens für Twitter erfunden, aber ich liebe es, in Kaffeehäusern zu sitzen, dort zu lesen und die Menschen zu beobachten. Früher schrieb man seine Erlebnisse und die daraus entstehenden Geschichten in ein Notizbuch, ich teile all das manchmal meinen Followern in Form einer kleinen Abfolge von Beobachtungen mit.
6) Was ist twitter für Sie?
Publikum und Moleskine.