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Alleinerziehende und Stigma – woher kommt das?

Mir sind kürzlich die Augen geöffnet worden. Ich habe nämlich Texte über die Geschichte der alleinstehenden Mütter gelesen. Und plötzlich habe ich verstanden, woher dieses diffuse Gefühl kommt, Alleinerziehende und ihre Kinder seien Familien zweiter Klasse.

Bis in die 1970er Jahre hinein hat es uns in Deutschland überhaupt nicht gegeben, zumindest nicht unter dem Begriff „Alleinerziehende“ – wir waren nämlich „ledige Mütter“, die „Bastarde“ in die Welt setzten oder groß zogen.

Und das mit dem Großziehen ist auch relativ neu, jedenfalls für die meisten Epochen und Gegenden Europas, denn es war über Jahrhunderte völlig normal, einer Frau, die unehelich schwanger wurde, ihr Kind wegzunehmen, so sie nicht das Glück hatte, in dörflicher Gemeinschaft zu leben und dort aufgefangen zu werden. Oft genug wurden Frauen, die unehelich schwanger wurden, verstoßen, und auch die Toleranz der dörflichen Gemeinschaft hörte abrupt auf, wenn die Frau ein zweites Mal schwanger wurde.

Alleinerziehende sind eine Revolution und erregen Anstoß

Heute haben wir eine ganz andere Sachlage: Die meisten Frauen, die heute in Deutschland alleinerziehend sind, waren vorher verheiratet – auch das ist historisch revolutionär und auf die hohen Scheidungsquoten zurückzuführen (nur 6% der Alleinerziehenden sind Witwen, von Anfang an alleinerziehend sind sehr wenige).

Alleinerziehende, so wie wir sie heute kennen, sind ein sehr, sehr neues Phänomen – und erst wenn man auf die Geschichte guckt, dann wird klar, warum wir es so schwer haben, aller scheinbar aufgeklärten Gesellschaft zum Trotz, Feminismus und Gleichberechtigung hin oder her.

Denn dass eine Frau sich trennt oder mit Kind alleine lebt, und dieses selbstbestimmt betreut, das gibt es in nennenswerten Mengen erst seit etwa 30 Jahren, selbst direkt nach dem Krieg (als die Väter auf gesellschaftlich anerkannte Art „abhanden gekommen waren“), verzeichnet die Statistik nur 16,5% uneheliche Kinder.

Noch 1970 wuchsen lediglich 5% der Kinder bei nur einem Elternteil auf, heute sind es fast explosionsartig mehr – die Statistik sagt, dass jede 5. Familie in Deutschland eine Ein-Eltern-Familie ist, und davon betreuen 32% zwei Kinder, 10 % sogar drei oder mehr Kinder.

Wir Alleinerziehenden sind Anfang des 21. Jahrhunderts eine historische Massenbewegung, stellen wir doch traditionelle Familienmodelle und Rollenbilder auf den Kopf. Und doch sind wir immer noch keine rundum anerkannte Familienform, wie man an der steuerlichen Benachteiligung und der Stigmatisierung merkt.

Diese Abwertung Alleinerziehender war für mich sehr schwer greifbar, in all den 6 Jahren, die ich in dieser Familienform lebe, konnte ich nie recht festmachen, woher diese Feindseligkeit kommt. Aber der Blick auf die Geschichte zeigt, dass Vorurteile und Abwertung von ledigen Müttern ihre Fortsetzung in der Diskriminierung von Alleinerziehenden finden.

10 historische Fakten zum Gruseln über Alleinerziehende

  1. Bis 1961 waren ledige Mütter/Alleinerziehende nicht sorgeberechtigt. Sie konnten das Sorgerecht auch nicht beantragen. Das Amt übernahm die Vormundschaft.
  2. Das bürgerliche Gesetzbuch von 1900 hält fest, dass weder unverheiratete Eltern noch ledige Mütter eine Familie sind.
  3. Vor der NS-Zeit wurde uneheliche Schwangerschaft mit Schwachsinn und sexueller Zügellosigkeit gleichgesetzt. Unter Hitler wurde hingegen jede „arische“ Schwangerschaft begrüßt, solange die Frau sich monogam verhielt.
  4. Bestraft für Schwangerschaften wurden immer die Frauen. Sie erhielten Schandstrafen. Männer wurden höchstens zu Geldstrafen herangezogen.
  5. Behauptete der Vater, die Frau habe „Mehrverkehr“ gehabt, also mehr als einen Liebhaber, musste er keinen Unterhalt zahlen. Beweisen musste der Kindsvater das nicht. (Und so zahlten 1912 in Berlin 90% der Väter keinen Unterhalt mit Verweis auf „Mehrverkehr“.)
  6. Ledige Mütter wurden von bestimmten kirchlichen Ritualen ausgeschlossen (Kommunion, Begräbnis, Patenschaft).
  7. Mütter ohne Mann wurden als „gefallene Unschuld“ (bürgerliche Frauen) oder als „liederliche Frauenzimmer“ (wenn sie aus niederen Schichten stammten) bezeichnet.
  8. Unehelich Schwangere wurden teils sogar ausgespeitscht, ihnen wurden die Haare abgeschnitten, eine bestimmte Kleiderordnung auferlegt (17./18. Jh.)
  9. Schwangerschaft war bis 1938 ein fristloser Kündigungsgrund für ledige Frauen.
  10. Eine uneheliche Geburt bedeutete weitgehende Rechtslosigkeit für Mutter und Kind.

Was lernen wir daraus?

Wenn wir uns vor Augen führen, wie unerhört neu es ist, dass Frauen, zumindest offiziell, gesellschaftlich respektiert alleine mit ihren Kindern leben, dann ist es eigentlich kein Wunder, dass wir es so schwer haben.

Weder ist die Gesellschaft soweit, Alleinerziehende als vollwertiges Familienmodell zu sehen, noch die Politik. Parteien wie die AfD sagen dies sogar ausdrücklich. Andere konservative Parteien sind weniger deutlich in den Worten, zeigen uns aber durch ausbleibende Unterstützung, dass sie noch in alten Weltbildern verharren.

Und um es mit den Ewiggestrigen zu sagen: Der Feminismus hat Schuld, dass es so viele Alleinerziehenden gibt. Denn heute haben Frauen Rechte: seit 1918 haben Frauen in Deutschland Wahlrecht, sie dürfen ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten (auch erst seit 1976) und auch innerhalb der Ehe nicht mehr vergewaltigt werden (erst seit 1997 – erschütternd). Keine Frau muss mehr mit einem Mann leben, der sie unglücklich macht, schlägt, vergewaltigt, betrügt oder erniedrigt. Natürlich werden Frauen auch verlassen, nach wie vor, und dann ist es umso bitterer, dass ihnen gesellschaftlich signalisiert wird, dass sie ihr Schicksal schon irgendwie selbst zu verantworten hätten – eine Ansicht, die in vielen Köpfen, bewusst oder unterbewusst, noch drinsteckt.

Trotz all dieser Fortschritte ist es vielen Alleinerziehenden noch immer nicht möglich, Kind und Beruf so zu vereinbaren, dass sie finanziell auf eigenen Beinen stehen, ihnen steht mit hoher Wahrscheinlichkeit Altersarmut bevor, und weiterhin sind die psychischen Belastungen und die soziale Ausgrenzung sehr hoch. Auch das Unterhaltsprellen als Kavaliersdelikt wird in Deutschland längst nicht so strengt verfolgt wie in anderen Ländern (in Brasilien wandert der nicht zahlende Vater in den Knast, und auch Arbeitslosigkeit ist kein Grund, nicht zu zahlen!)

Ein Appell: behandelt die Alleinerziehenden fair!

Das alles muss sich dringend ändern – zum Wohle der 2,2 Millionen Kinder, die in Deutschland in Ein-Eltern-Familien großwerden. Fangen wir damit an, die steuerliche Benachteiligung aufzuheben und für bessere Vereinbarkeit von Familie und dem Alleinerziehen zu sorgen. Und behandeln wir die alleinerziehenden Frauen (denn es sind zu 90% Frauen, die Kinder in Deutschland alleine großziehen) mit Respekt – zumindest mit der Wertschätzung und zwischenmenschlicher Unterstützung, die alleinerziehende Männer laut Studien ganz selbstverständlich erfahren.

Quelle: Single Moms. Alleinstehende Mütter und ihre Lebenswelten. Ausstellungskatalog Band 1, hrsg. von Bettina Bab und Marianne Pitzen. Bonn, April 2014. ISBN Nr. 978-3-940482-74-7