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Muss der jetzt auch noch was sagen!? Über Wortmeldungen im Gemeinderat

Warum melden sich manche so ausufernd zu Wort und andere gar nicht? Einblicke über die Kultur der Wortmeldungen aus Sicht einer Stadträtin.

„Es gab mal einen Stadtrat“, so wurde mir bei einem sogenannten Nachsitzungsbier erklärt, „Der hat sich in der ganzen Zeit, in der er im Gemeinderat war, nicht zu Wort gemeldet.“ Das Nachsitzungsbier war bei mir ein Glas Wein, weil ich Bier für ungenießbar halte, und wir standen nach der letzten Sitzung des Gemeinderats vor der Sommerpause im wunderschön beleuchteten Garten des Veranstaltungsorts, an dem wir meist tagen, noch beisammen. Das Nachsitzungsbier verdient eine eigene Kolumne, denn es ist eine wichtige Institution nicht ohne Fallstricke für die politische Teilhabe. Aber dazu ein anderes Mal mehr.

Als Stadträtin, die sich anfänglich sehr schwer getan hat mit eigenen Wortmeldungen und die mit den Ritualen und Gepflogenheiten im Stadtrat und den dazugehörigen Gremien ziemlich haderte, war ich neugierig. „Ahja?“, wandte ich mich an die Umstehenden, von denen Einige zustimmend genickt hatten, als die Rede auf den schweigsamen Volksvertreter kam. „Wer war das, und wann? Der hat also wirklich die ganzen fünf Jahre rein gar nichts gesagt!?“
So richtig genau wusste es niemand mehr, aber es wurde übereinstimmend berichtet, dass es schon lange her gewesen ist, und dass derjenige Mitglied der CDU gewesen sei (Das ist ein bisschen lustig, denn die CDU, wie ich sie im Gemeinderat kenne, ist ausgesprochen redefreudig).

Die Lokalzeitung wertete die Wortmeldungen aus – und gab mir den entscheidenden Schubs

Ich staunte, dachte ich doch, ich sei in meiner ersten Wahlperiode absolut herausragend still in den Gemeinderatssitzungen gewesen, was sich erst änderte, als die Lokalzeitung in einem Artikel eine Statistik in Form eines Balkendiagramms veröffentlichte, in dem sie die Wortmeldungen und Redezeiten der GemeinderätInnen aus den veröffentlichten Protokollen ausgewertet hatten. Und ich war da letzte oder vorletzte gewesen, was mich ein bisschen geärgert hat, denn in den Sitzungen der Ausschüsse, die ich als Stadträtin auch bediene (auch das ist noch ein Thema für eine weitere Kolumne) hatte ich im Prinzip zu jedem behandelten Thema im Namen meiner Fraktion etwas gesagt, aber das war halt nicht Teil der Auswertung der Zeitung, und da stand es nunmal schwarz auf weiß: Ich meldete mich im Gemeinderat zu wenig zu Wort. Das hat mich schon etwas gewurmt und auch meinen sportlichen Ehrgeiz geweckt – einen Ehrgeiz, den ich beim Sport tatsächlich überhaupt nicht habe, den mache ich nämlich ausschließlich zum Spaß und zum Zwecke der Entspannung.

Mich zu Wort zu melden in den ersten Jahren des Gemeinderats, was ich im Ehrenamt ausübe, und in den ich erst im Alter von 48 kam, fand ich enorm schwierig. Ich hatte keine Übung darin, meine Gedanken in diesem Gremium anzubringen. Ich musste mich an die Mikrophone gewöhnen, in die man spricht, ich wusste nicht, wie Gremienarbeit funktioniert, weder vor noch hinter den Kulissen, und ich musste auch für mich erst ausprobieren, in welcher Form und Sprache ich meine Beiträge anbringen möchte.

Ich experimentierte mit vorgefertigten Redebeiträgen, wobei ich meist eher unwohl fühlte, wenn ich sie vortrug, mit Stichpunkten, die ich erst während der Wortmeldung ausformulierte, und mit spontanem Vortrag. Es hat viele Sitzungen und Jahre gebraucht, bis ich den besten Modus Operandi für mich gefunden habe, und etliche Male musste ich mich dafür aus meiner Komfortzone schubsen. Aber ich hatte es mir ja vorgenommen, und mein Vorsatz war, mich mindestens jede Gemeinderatsitzung ein Mal zu melden, sofern es sinnvoll war.

Wortmeldungen aus Prinzip oder weil die Presse da ist

Das mit der Sinnhaftigkeit ist keine nebensächliche Sache, denn genau daran haperte es bei mir am Anfang (damit meine ich die ersten Jahre im Gemeinderat!): Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum sich wer wann meldet, um was genau zu sagen. Damit verbunden natürlich die Frage, wann und warum ich mich melden sollte, und wofür das wichtig war. Außerdem gibt es ja auch Fraktionssprecher, die theoretisch im Namen der Fraktion sprechen, aber so richtig eng wird das bei uns zumindest im Gemeinderat nicht gesehen, da reden alle Räte.

Dass bei jedem Thema jede Fraktion einmal spricht, so sie denn will, um der Öffentlichkeit und auch sich selbst kundzutun, wie ihre Position ist, hatte ich relativ bald verstanden. Aber warum meldeten sich manche Stadträte bei jedem Ausschuss und dann noch im Gemeinderat, um immer dieselben Punkte zu bringen? Warum gab es von einer Fraktion manchmal mehrere Wortmeldungen demselben Thema? Nun, manchmal schlichtweg, weil die Presse mit im Raum sitzt, was in Zeiten zusammengesparter Lokalredaktionen überhaupt nicht mehr selbstverständlich ist (Auch das notiere ich mir als Kolumnenthema), und weil Politik auch öffentliche Wahrnehmung braucht.

Zum anderen aber auch, um den Punkt einfach aus Prinzip nochmal zu machen, weil das zum Markenkern der jeweiligen Fraktion/Person im Rat gehört. Und da jede Fraktion andere Markenkerne hat, meldet sich mal der eine, mal der andere im Gemeinderat oder einem Ausschuss zu Wort, obwohl eigentlich gar nicht viel zu besprechen wäre – es geschieht vor allem aus Prinzip und nicht, wie ich anfangs angenommen hatte, um die anderen stimmberechtigten Ratsmitglieder von der eigenen Meinung zu überzeugen (letzteres ist eher die Ausnahme). Das wiederum hat zur Folge, dass dann auch die Arme von Vertretern der 6 weiteren Fraktionen für Wortmeldungen in die Höhe schnellen. Denn sobald einer etwas sagt, wollen sich die anderen nicht stumm verhalten, wie sieht denn das aus!?

Sitzfleisch als entscheidende Eigenschaft fürs Anhören von Wortmeldungen

In dieser Praxis, von der ich auch nicht weiß, wie man sie abschaffen sollte und ob das überhaupt sinnvoll wäre, liegt einer der Gründe für die langen Sitzungszeiten, mit denen wir als ehrenamtliche LokalpolitikerInnen uns manchmal herumquälen. Zu allem Überfluss gibt es, wie überall, auch mehr und weniger talentierte Redner, und manch Wortbeitrag ist nicht nur langweilig oder abstrus, sondern auch schlecht vorgetragen. Da braucht man eine Menge Geduld und Sitzfleisch, um das zu ertragen, und das ist auch der Grund, warum man uns Politiker, auch die Ehrenamtlichen, manchmal aufs Tablet oder Handy schauen sieht während der Sitzungen. Vier bis sechs Stunden „Frontalunterricht“ sind schlichtweg sehr anstrengend, und so lange dauern unsere Sitzungen, die in den Abend hineingehen, regelmäßig.

Doch zurück in den Garten und zur Nachsitzung. Denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Wir standen also mit Bier oder Wein beisammen, über uns funkelten Lichterketten, der Abendhimmel war dunkel und es ging auf Mitternacht zu. Die Gruppe, bei der ich stand, und die mir von dem sagenhaft schweigsamen Gemeinderat erzählt hatte, nippte am gekühlten Getränk. Und plötzlich durchbrach ein älterer Rat in der Runde die Stille: „Doch, einmal hat der sich gemeldet!“ Sieben Köpfe drehten sich neugierig zum Sprecher hin. Der grinste wie jemand, der einen guten Gag zu erzählen hat, holte Luft und prustete los: „Und das war, als er „Ende der Debatte!“ gefordert hat.“

Das habe ich mir nicht ausgedacht, ich schwöre es bei meiner Autorinnenehre. (Und außerdem gibt es Zeugen dafür.) Ich habe sehr, sehr lange nicht mehr so gelacht wie in diesem Moment. Und was es mit „Ende der Debatte!“ und anderen Geschäftsordnungsgepflogenheiten auf sich hat, erzähle ich euch ein anderes Mal.

UN Sonderberichterstatterin warnt vor Selbstbestimmungsgesetz

Selbstbestimmungsgesetz und Gewaltschutz passen nicht zusammen und können zu Retraumatisierung, Gefährdung und Exklusion von Frauen führen – so meldet sich die UN Sonderberichterstatterin Reem Alsalem mit einem offenen Brief an die Schottische Regierung zu Wort. Das sollte uns auch in Deutschland zu denken geben.

Reem Alsalem ist nicht irgendwer. Sie ist seit Juli 2021 die UN Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Kinder, und in dieser Funktion hat sie am 18.11.2022 das Oberhaupt der schottischen Regierung angeschrieben, Nicola Sturgeon. In Schottland ist ein Selbstbestimmungsgesetz geplant, das in sehr ähnlicher Form auch in Deutschland bereits 2023 kommen soll – die Eckpunkte dafür hat die Bundesregierung bereits vorgestellt, und sowohl Familien- als auch Justizministerium arbeiten an einer möglichst raschen Umsetzung.

Vorgestern meldete Alsalem sich auf Twitter zu Wort und verlinkte ihren 9-seitigen Brief, in dem sie vor einer Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes, das Transpersonen einen einfachen Wechsel des offiziellen Geschlechts via Sprechakt möglich machen soll, da sie als UN Sonderberichterstatterin gegen Gewalt den Schutz von insbesondere traumatisierten Frauen und Kindern bedroht sieht.

Was ist das Selbstbestimmungsgesetz und warum kann es ein Problem für Frauen werden?

Für alle, die nicht so tief im Thema drin sind: mit dem Selbstbestimmungsgesetz, wie es z.B. in den Niederlanden, Schottland und Deutschland geplant ist, kann zukünftig jede Person ihr Geschlecht frei wählen und eine sogenannte „Personenstandsänderung“ vornehmen lassen, völlig unabhängig von körperlichen Merkmalen. Ohne jegliches Gutachten, ohne Gespräche mit Fachleuten wie Therapeuten. Es kann also ein Mann mit Bart und Penis sagen, er fühle sich als Frau, und wolle von nun an als solche angesprochen und vor dem Gesetz sowie von der Gesellschaft auch so behandelt werden. Darauf hat er dann einen Rechtsanspruch.

Das bringt vielfältige Implikationen mit sich, von denen ein Aspekt der Gewaltschutz ist, mit dem die Sonderberichterstatterin Alsalem sich von Berufs wegen beschäftigt. Da ihr Brief exakt das herausarbeitet, was einige Feministinnen in Deutschland seit Monaten sagen, und was speziell ehemalig von Gewalt betroffene Frauen anmahnen, nehme ich mir zum Tag gegen Gewalt an Frauen die Zeit, die wichtigsten Punkte aus Reem Alsalems Brief zu übersetzen.

Reem Alsalems Brief zum Selbstbestimmungsgesetz in Auszügen

Nachdem Alsalem eingangs klargestellt hat, wie sehr ihr der Gewaltschutz von Transpersonen und nicht genderkonformen Frauen am Herzen liegt, und dass natürlich diese Personengruppen Schutzräume und Hilfsangebote brauchen, schreibt sie:

„Ich teile jedoch die Sorge, dass das Gesetzesvorhaben das Potenzial hat, es gewalttätigen Männern, die sich als Männer identifizieren, zu ermöglichen, durch den Prozess einer offiziellen Personenstandsänderung auch die Rechte, die damit einhergehen, zu missbrauchen. Dies stellt ein mögliches Risiko für die Sicherheit aller Frauen in ihrer Diversität dar (das betrifft weiblich geborene Frauen, Transfrauen, und nicht genderkonforme Frauen).“ (S.1)

Alsalem bemängelt, dass die Schottische Regierung die Rechtsfolgen des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes und die Folgen auf die Menschenrechte von Frauen und Kindern nicht berücksichtigt hat, obwohl dies laut UK Women and Equalities Committee Report von 2021 anlässlich der Reform des Selbstbestimmungsgesetzes unabdingbar wäre.

Schlupflöcher für männliche Straftäter und fehlender Opferschutz

„Der obige Report empfiehlt, dass solide Richtlinien entwickelt werden sollten, wie ein Selbstbestimmungsgesetz in der Praxis funktionieren soll, insbesondere am Beispiel von männlichen Gefängnisinsassen, die Sexualstraftaten oder häusliche Gewalt begangen haben, die sich als Frau identifizieren, und die nicht in Frauengefängnisse verlegt werden sollten.“ (S. 2)

„Die aktuellen Bestrebungen, die existierende Gesetzgebung … zu reformieren, berücksichtigt die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Kindern in all ihrer Diversität nur unzureichend, insbesondere die von denjenigen, die dem Risiko männlicher Gewalt ausgesetzt sind und jenen, die männliche Gewalt überlebt haben; und die Reform sieht überhaupt keine Sicherungsmechanismen vor, um dafür zu sorgen, dass sie nicht durch Sexualstraftäter und andere Gewalttäter missbraucht werden kann. Diese [Bestrebungen] bringen den Zugang zu reinen Frauenschutzräumen und zu FLINTA Schutzräumen mit sich. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Beharren auf einem Risikomanagement und Sicherheit sich nicht aus dem Glauben speist, dass Transpersonen selbst eine Gefahr darstellen. [Redaktionelle Fettung von Christine Finke]. Das Risiko basiert auf empirischen Beweisen, dass die Mehrheit der Sexualstraftäter männlich ist und dass ausdauernde Sexualstraftäter keinen Aufwand scheuen, um Zugriff auf jene zu bekommen, die sie missbrauchen wollen.

[…] Die Sicherheit und der Schutz aller Menschen muss vom Gesetz gewährleistet werden. Dies beinhaltet Schutzvorkehrungen gegen erneute Opferwerdung, Traumatisierung und andere Arten von Gewalt. Der UN Sonderberichterstatter für Folter betont, dass sich bei Opfern von Vergewaltigungen und anderer sexualisierter Gewalt zusätzlich zu der erlebten körperlichen Gewalt der seelische Schmerz und das Leiden der Opfer durch auf die Tat folgende Stigmatisierung und Isolation verschlimmern und das Leid verlängern.“ (S. 3f.)

Trauma: Warum die Anwesenheit von Transfrauen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen unerwünscht sein kann

Dass es keine Transfeindlichkeit ist, reine Frauenschutzräume zu fordern, stellt die UN Berichterstatterin kurz darauf klar heraus: „Biologisches Geschlecht ist [laut Kommentierung des §240 des Equality Act 2010] nicht dasselbe wie Geschlechtsidentität, wie an diesem Beispiel ausgeführt wird, bei dem es um das Angebot reiner Frauenräume geht: Psychologische Beratung für eine Gruppe wird für weibliche Opfer von Sexualstraftaten angeboten. Die Organisatoren gestatten transsexuellen Menschen keinen Zutritt, weil sie zu dem Urteil gekommen sind, dass die Klientinnen, die die Gruppensitzungen besuchen, dies nicht mehr täten, wenn eine ehemals männliche Transfrau auch anwesend wäre. Dies wäre rechtmäßig.“ (S. 4)

Dazu erschien auch im April 2022 ein Paper der Equality und Human Rights Commission (siehe FN 8 des Briefs von Alsalem), „in dem konstatiert wird, unter welchen Bedingungen es zulässig ist, reine Frauenschutzräume einzurichten. Die Richtlinie besagt, dass das Bedürfnis von Frauen nach Privatsphäre, Würde und Sicherheit reine Frauenschutzräume rechtfertigen kann, und somit männlich geborene Personen ausgeschlossen werden können, unabhängig davon, wie sie sich identifizieren.“ (S. 5)

Auch die Verhinderung von Traumatisierung und Retraumatisierung stellen laut diesem Paper der Kommission legitime Gründe dar, auf reinen Frauenräumen zu bestehen. Es handelt sich dabei nicht um Transfeindlichkeit, wie von Aktivisten teilweise propagiert wird.

Dem Heilungsprozess traumatisierter Frauen muss Raum und Zeit gegeben werden

„Weitere Traumatisierungen von Gewaltopfern ist insofern ein legitimer Grund für reine Frauenräume. Retraumatisierung und Reviktimisierung von Frauen… durch patriarchale männliche Gewalt ist unabdingbar für den Heilungsprozess von Überlebenden und Opfern und für ihr Weiterleben“ […] Leider bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass es nicht gelingt, den weiblichen Überlebenden von Männergewalt reine Frauenräume zur Verfügung zu stellen. Diese Frauen fühlen sich aufgrund des Erlebten nicht in der Lage, transinklusive Räume und Beratungsstellen aufzusuchen, was zu Selbstausgrenzung von unterstützenden Maßnahmen führt.“ (S. 5)

Ferner ergänzt die UN Sonderberichterstatterin: „Es gibt auch Bedenken bezüglich Selbstausgrenzung aufgrund von kulturellen und religiösen Faktoren“ (S. 6)

„Frauen und Kinder sind Opfer von Gewalt, egal, wie sie sich identifizieren oder welche sexuelle Orientierung sie haben“, schließt Alsalem, und mahnt, dass es sich bei beiden um besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen handelt. (S. 8) Sie erinnert daran, dass sich Sexualstraftäter mit dem geplanten Gesetz eine neue Identität zulegen können, was für den Gewaltschutz problematisch sein wird.

Das geplante Selbstbestimmungsgesetz geht alle an

„Dies sind komplexe Fragen mit sehr praktischen und realen Konsequenzen für mehr als eine schutzbedürftige Gruppe, es gibt Schnittpunkte mit anderen schutzbedürftigen Gruppen und Schnittpunkte mit der gesamten Gesellschaft. Deswegen appelliere ich dringend an die Schottische Regierung, dem Gesetzgebungsprozess genügend Zeit zu geben, um eine zuverlässige Rechtsfolgenabschätzung aller Konsequenzen der geplanten Änderung vornehmen zu können, und die Kompatibilität mit bestehender Gesetzgebung … zu prüfen.“ (S. 7)

„Ich bitte die Regierung dringend darum, alle Betroffenengruppen, die ihre Ansichten und Bedenken gegenüber diesem Gesetz vorbringen wollen. sorgfältig anzuhören. […] Während ich der Regierung dafür lobe, die Stimmen von Transfrauen anzuhören, inklusive der Organisationen, durch die sie repräsentiert werden, so bin ich doch besorgt, dass bei den Anhörungen für diese Gesetzesänderung andere Gruppen von Frauen nicht genügend gehört wurden, vor allem die weiblichen Opfer von Gewalt. […] Wenn man die Bedürfnisse von als Frau geborenen Überlebenden von Gewalt als unlauter darstellt und ihr Bedürfnis nach reinen Frauenschutzräumen und Beratung infrage stellt, dann ist dies nicht opferzentriert und ignoriert die unfreiwillige Traumatisierung des Opfers, seine Anliegen und seine Würde.“ (S. 9)

Alles, was Reem Alsalem schreibt, kann man im Grunde 1:1 auch auf Deutschland übertragen. Und ich hoffe, unsere Regierung berücksichtigt diese Einwände. Denn der Schutz von traumatisierten Frauen und Mädchen sowie die Verhinderung weiterer Traumatisierungen ist ein wichtiges Menschenrecht.

P.S. Bei Ungenauigkeiten/Fehlern in der Übersetzung, die euch auffallen, bitte ich um Nachricht, damit ich ggfs. Korrekturen vornehmen kann.

Mein Standpunkt zum Thema Selbstbestimmungsgesetz hier im Blog: „Kritik am Selbstbestimmungsgesetz – mein Brief an Lisa Paus.“

Kritik am Selbstbestimmungsgesetz – mein Brief an Lisa Paus

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Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Lisa Paus,

vor 4 Jahren liefen wir gemeinsam auf der ersten Demo gegen Kinderarmut mitten durch Berlin und unterhielten uns, und ich erinnere mich an ein gutes Gespräch. Damals haben wir uns geduzt, aber aus Respekt vor dem Amt und auch vor Ihrer Person halte ich das in diesem Brief nicht für angemessen. Es soll aber bitte als ausdrückliche Wertschätzung verstanden werden, nicht als Zeichen von Distanzierung, denn ich bin ein Fan Ihrer politischen Arbeit.

Drum habe ich mich auch sehr gefreut, als ich hörte, dass Sie nach Anne Spiegel unsere neue Familienministerin werden sollten, und ich freue mich nach wie vor darüber, dass Sie dieses Amt ausüben. Ich sehe Sie als Kämpferin für Gleichstellung, Frauen- und Kinderrechte (ebenso wie die Staatsministerin Ekin Deligöz, die ich persönlich kennengelernt habe, als ich 2018 als Rednerin bei der Delegiertenkonferenz der Bayerischen Grünen auftrat), und deswegen schreibe ich Ihnen heute.

Es bereitet mir, wie Sie auf Twitter vielleicht mitbekommen haben, große Bauchschmerzen, wie wenig beim kommenden Selbstbestimmungsgesetz an die Belange von Frauen, insbesondere traumatisierten Frauen, gedacht wird. Ich habe in den vergangenen Tagen mit einigen grünen Frauen gesprochen (auf allen politischen Ebenen), und fast alle von denen hatten keine Ahnung, um was es bei dem Selbstbestimmungsgesetz und dem sehr lauten Streit darüber eigentlich geht. Das verstehe ich, denn in der Politik gibt es gerade wirklich akute, dringende Themen, und niemand hat Zeit, sich in der Tiefe mit allen Themen zu befassen.

Aber Sie als Familienministerin sollen und dürfen das ja von Amts wegen. Und drum komme ich nach der langen Vorrede zu meinem Anliegen: Ich möchte Sie darum bitten, meine Bedenken anzuhören.

Natürlich sollen trans Personen Schutz vor Gewalt und Diskriminierung erfahren, und natürlich muss das Transsexuellengesetz reformiert werden. Darüber, dass jeder Mensch Menschenrechte hat, müssen wir nicht diskutieren. Allerdings ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass die Neuausgestaltung der Gesetzeslage nicht zulasten von Kindern und Frauen geht.

Aber das Gesetz wird Auswirkungen auf vielen Ebenen haben, es geht absolut nicht nur um eine Änderung des Personenstands und des Vornamens, auch wenn dies von Befürwortern gerne so dargestellt wird.

Folgende Punkte halte ich in Sachen Selbstbstimmungsgesetz für besonders problematisch:

  1. Viele Frauen werden Opfer von Gewalt durch Männer. Etliche Frauen sind traumatisiert, und gerade sie brauchen reine Frauenräume. Dabei meine ich nicht nur Frauenhäuser, die ja Einzelfallentscheidungen bei trans Personen treffen können und dies sicherlich verantwortungsvoll tun, sondern sämtliche Räume, in denen Frauen bisher unter sich sein können. Schon das Vorhandensein von tiefer Stimme, männlicher Statur und natürlich das der primären Geschlechtsmerkmale kann hier triggern (So ging es auch mir in der Zeit nach der erlebten Gewalt durch meinen Expartner). Gewaltbetroffene Frauen brauchen Zeit, Therapie und Räume, in denen sie sich sicher fühlen – tun sie das nicht, ziehen sie sich zurück. Dabei leben traumatisierte Frauen meist eh schon sehr zurückgezogen.
  1. Es wird sehr einfach sein, zukünftig als Mann in Frauenräume einzudringen, selbst ohne dass der Mann sich als trans Person identifiziert oder gar eine Änderung seines Personenstands vorgenommen hat. Ein biologischer Mann in Frauenräumen kann davon ausgehen, dass sich niemand traut, ihn zu fragen, was er da sucht. Das öffnet Missbrauch Tür und Tor (und der muss nicht unbedingt körperlich sein.) Voyeure, Exhibitionisten, Sexualstraftäter, sie alle dürften sich sehr freuen über die anstehende Gesetzesänderung. (Siehe dazu das Interview des Strafverteidigers Udo Vetter in der nzz vom 18.08.2022).
  1. Der komplette Wegfall von Gutachten (das Bundesverfassungsgericht hatte nicht die Existenz von Gutachten per se als verfassungswidrig beanstandet, sondern deren Ausgestaltung) sorgt dafür, dass es keine Instanz gibt, die die Ernsthaftigkeit und Sinnhaftigkeit des Transitionswunsches sachlich beurteilt. In familiengerichtlichen Verfahren übrigens müssen Frauen oft sehr viel Geld für gerichtlich angeordnete Gutachten ausgeben, die z.B. ihre Erziehungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit belegen sollen. Ich sehe hier eine Ungleichbehandlung.
  1. Frauenförderung, Frauenpreise und -stipendien, Frauensport und Frauenquoten sind damit in meinen Augen im Grunde hinfällig. Aber leider nicht, weil wir sie nicht mehr brauchen, sondern weil sich jedermann dort hinein identifizieren kann. Selbst wenn es sich um eine trans Person handelt, so hat diese als Transfrau z.B. im Frauensport körperliche Vorteile, die fairen Wettbewerb nicht zulassen. Hier auf eine Regelung der Sportverbände zu setzen, halte ich für einen gangbaren Weg, aber mein Vertrauen in die dortigen Funktionäre ist aufgrund der Strukturen nicht wirklich hoch.

Es gäbe noch mehr und vieles zu sagen, und eigentlich können das Andere viel besser, die sich als Aktivistinnen tief in das Thema eingearbeitet haben. Diese Frauen finden Sie auch in den Reihen ihrer eigenen Partei. Vielleicht sprechen Sie auch mal mit Inge Bell von Terre de Femmes Deutschland, wo gerade wegen eines angeblich transfeindlichen Positionspapiers zum Selbstbestimmungsgesetz ein großer Streit zwischen Vorstand und Basis tobt. Auch mir wird nachgesagt, transfeindlich zu sein, so wie auch allen anderen Frauen, die Fragen und Kritik zum geplanten Gesetzesvorhaben haben. Wir werden als „Terfs“ entmenschlicht und beschimpft, in eine rechte Ecke gerückt, mit Nazis verglichen, und sämtliche Einwände werden als faschistoid dargestellt. Das ist ein zutiefst undemokratisches Verhalten, das mich als ehrenamtliche Kommunalpolitikerin entsetzt.

Es ist auch kein Zufall, dass ich vornehmlich auf Männer und Transfrauen eingehe in diesem Brief, denn weder sind Transmänner eine besonders aggressive und politisch laute Gruppe, noch geht von ihnen eine nennenswerte Gefahr für Frauen und Kinder aus. Es war ein Transmann, der sich bei dem gewaltsamen Vorfall auf dem CSD in Münster schützend vor die Lesben stellte, die ein männlicher Täter anpöbelte und angriff. Und an dieser Stelle sei noch gesagt, dass ich viele Lesben in meinem Freundeskreis habe, die sich von den aktuellen Entwicklungen bedroht sehen, denn es gibt Transaktivisten, die Lesben als sexuelle Orientierung ablehnen und diesen mit sehr viel Aggressionen begegnen. Schon mehrfach kam es in jüngster Zeit dabei zu körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen die Lesben attackiert wurden.

Hier wäre dieser Brief eigentlich zu Ende, denn er ist eh schon zu lang. Aber ein Wort zu den Kindern muss noch sein: Ich bin erleichtert, dass Kinder ab 14 noch das Einverständnis der Sorgeberechtigten benötigen werden für eine Änderung des Geschlechtseintrags laut Eckpunktepapier, und ich finde es gleichzeitig richtig, dass ihnen der Rechtsweg über das Familiengericht offensteht, wenn sie eine Änderung des Geschlechtseintrags ohne Zustimmung ihrer Eltern vornehmen wollen.

Aber: Ich beobachte – auch im Umkreis meiner eigenen Kinder – immer öfter, dass Kinder mit Depressionen, Autismus, Vergewaltigungserfahrung oder anderen Traumatisierungen durch den Einfluss der sozialen Medien und ihrer Peer Group zu der Annahme kommen, sie seien trans oder non binary. Teilweise sind es auch einfach Jugendliche, die den üblichen Geschlechterklischees nicht entsprechen wollen und nun denken, sie gehörten deswegen zum anderen Geschlecht. Sie erhalten dafür viel Zuspruch und erleben ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ihnen Auftrieb gibt.

Hier halte ich sehr viel mehr von einer guten therapeutischen/psychiatrischen Begleitung als von einfachen Lösungen wie einem geänderten Geschlechtseintrag. Vor allem aber, so habe ich Sie in der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Eckpunktepapiers verstanden, sollten Kinder keine irreversiblen geschlechtsangleichenden Maßnahmen vornehmen lassen oder folgenreiche hormonelle Behandlung wie Pubertätsblocker ohne intensive medizinische Begleitung und Beratung erhalten. (Siehe dazu die neuesten Entwicklungen in Schweden und England, wo man zurückrudert.) Zumindest ist das vom Gesetz her nicht vorgesehen – aber wie sich das dann in der medizinischen Praxis auswirkt, kann ich nicht beurteilen. Ich baue darauf, dass gerade die Kinder vom Gesetzgeber besonders geschützt werden.

Ich hoffe, Sie finden trotz des sicher anspruchsvollen Tagesgeschäfts Zeit, diesen Brief zu lesen und sich damit inhaltlich zu beschäftigen. Ich erlaube mir, ihn in Kopie auch an Ekin Deligöz zu senden und werde ihn eventuell als offenen Brief in meinen Blog stellen, denn ich hoffe nach wie vor, dass ein guter Kompromiss für die anstehenden Reformen gefunden wird, nämlich ein Selbstbestimmungsgesetz, das der gesamten Gesellschaft gerecht wird und nicht nur Partikularinteressen bedient.

Es grüßt Sie sehr herzlich aus Konstanz,

Christine Finke

P.S.: Ich bin seit 1995 offen bi und schon auf etlichen CSDs mitgelaufen.

30 politische Forderungen für Alleinerziehende

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Bald wird eine neue Bundesegierung die Familienpolitik neu verhandeln. Und da ich in Gesprächen mit PolitikerInnen immer wieder merke, dass sie meist nur Teilbereiche dessen, was im Argen liegt, im Fokus haben, gibt’s zum 10. Bloggeburtstag eine Übersicht der Dinge, die Alleinerziehende von der Politik bräuchten.

Es muss auch gar nicht alles auf einmal sein – manches ist sehr langfristig gedacht, manches müsste eigentlich längst schon umgesetzt sein. Falls die Politik jedenfalls Ideen sucht, wie Alleinerziehenden politisch unter die Arme gegriffen werden kann, hier ist mein Rundumschlag, ein umfassender Katalog an Forderungen, meine 30 politischen Forderungen für Alleinerziehende. Bedient euch!

Steuerlich/finanziell

  1. Kindergrundsicherung (Achtung, muss unabhängig von der Umgangsregelung sein, sonst gibt es weiteres Hickhack um einzelne Tage, Betreuungszeiten, wie bei Hartz IV, und setzt eventuell Fehlanreize in Richtung Wechselmodell.)
  2. Abschaffung des Ehegattensplittings, das kinderlose Ehen fördert und Alleinerziehende benachteiligt. Stattdessen z.B. Individualbesteuerung, wie vom VAMV gefordert.
  3. Fördergelder für den Bau von Alleinerziehenden-Wohnraum in Clusterform oder mit WG-Charakter (Derzeit kann ein Zusammenzug finanzielle Nachteile bringen, man muss getrenntes Wirtschaften nachweisen und wird vom Finanzamt ansonsten mit Entzug der Steuerklasse 2 bestraft. Bei Hartz IV gilt man als Bedarfsgemeinschaft, wenn man mit einem weiteren Erwachsenen im Haushalt lebt.)
  4. Für Steuerklasse 2 muss maßgeblich sein, ob noch ein 1 Kind unter 18 bei der AE im Haushalt lebt, nicht, ob ein bereits erwachsenes Kind noch dort wohnt. Ist ein Problem für Alleinerziehende mit mehreren Kindern: sobald das erste Kind 18 wird und z.B. jobbt, um Geld für den Auszug zu verdienen, gilt es als Miternährer, wird steuerrechtlich behandelt wie ein Partner.

Gesundheitlich/sozial

    1. Gutscheine für Haushaltshilfen zur praktischen Entlastung (Umsetzung des in der Koalitionsvereinbarung von 2018 festgehaltenen Vorhabens!)
    2. Prävention: Wahl zwischen Mutter-Kind Kur und regelmäßiger Haushaltshilfe als präventive, entlastende Maßnahme. (Kommt finanziell aufs selbe raus.)
    3. Anlaufstellen: Schaffung von qualifizierten, niederschwelligen Beratungsstellen – Alleinerziehendenlotsen in jeder Stadt, die durch den Dschungel an Familienleistungen helfen und Ansprechpartner für alle wichtigen Anliegen nennen können. Erreichbarkeit auch per Chat wichtig.
    4. Verhinderung von Altersarmut: Für AE, die wegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und fehlender Kinderbetreuung nicht in dem Maße berufstätig sein können, wie sie das gerne sein würden, sollten Rentenpunkte gutgeschrieben werden, analog dazu, wie es bei pflegenden Angehörigen geschieht (Dafür könnte man auch verschiedene Pflegegrade einführen.)

Rechtlich

Umgang

  1. Umgangsrecht darf nicht mehr über Gewaltschutz stehen.
  2. Gewalttätige Väter* sollten grundsätzlich als nicht erziehungsfähig eingestuft werden – bis sie das Gegenteil beweisen können. Auch, wenn die Gewalt „nur“ gegen die Mutter**ausgeübt wurde. (Kinder werden indirekt traumatisiert, auch wenn sie selbst nicht körperlich angegriffen wurden.)
  3. Kinderrechte ins Grundgesetz und ernstnehmen: z.B. Kinder nicht mehr zum Umgang gerichtlich zwingen, wenn sie das nicht möchten (und z.B. sogar mit der Polizei vorführen lassen!), während es andersherum nicht üblich ist, den nicht betreuenden Elternteil zum Umgang zu „verdonnern“, wenn dieser keine Lust auf sein Kind hat. Argumentation des Kindeswohls muss immer einzeln geprüft werden. (Die 365 Tage allein im Jahr betreuende Mutter** hat oft auch keine Lust. Wo bleibt da das Kindeswohl!?)
  4. Generell: Gewalt umfassend betrachten: physische, finanzielle, psychische Gewalt. Finanzielle Gewalt ist auch das Nichtzahlen von Unterhalt.

*Mütter sind mitgemeint **Väter sind mitgemeint

Familiengericht

  1. Qualitätsstandards für die Ausbildung von Verfahrensbeiständen (das kann im Moment quasi jeder werden, manchmal reicht ein Wochenendseminar!)
  2. Qualitätsstandards für Gutachten, Transparenz über Auftragserteilung durch Familiengerichte (Warum wurde dieser Gutachter beauftragt?)
  3. Pflicht zur fachlichen Grundausbildung von FamilienrichterInnen, inklusive solchen zur Psyche von Kindern in Trennungssituationen, Traumatisierung, Bindungsverhalten, Hochstrittigkeit, Nachtrennungsgewalt.
  4. Verpflichtende Weiterbildungen für FamilienrichterInnen, siehe Punkt 3, damit aktuelle Forschungsergebnisse in die Entscheidungen einfließen – zum Beispiel die Erkenntnis, dass es kein „Parental Alienation Syndrom“ gibt und die sogenannte „Entfremdung“ Junk Science ist.
  5. Gesetz, das endloses Prozessieren verhindert, das nur zum Ziel hat, die Mutter mürbe zu machen und finanziell zu ruinieren (wie 2020 in England verabschiedet). Dazu gehören auch teure Gutachten, die von den Eltern selbst gezahlt werden müssen. Die Summen dafür gehen in die Zehntausende pro Fall. Ständiges Prozessieren ist psychische und finanzielle Gewalt!
  6. Umsetzung der Istanbul Konvention (Gewaltschutz, Berücksichtigung von Gewalt in Familiengerichtsverfahren, bei Umgang, Sorgerecht.)

Unterhalt

  1. Rechtliche Schlupflöcher stopfen: z.B. Einsichtsmöglichkeit auf Kontobewegungen des Unterhaltspflichtigen (derzeit ist nicht einmal die Abfrage des Kontostands vorgesehen!), Sanktionierung von Vermögensübertragung auf neue Partnerin, tatsächliches Einfordern der gesteigerten Erwerbsobliegenheit, Verfolgung von Schwarzarbeit und Vermögensverschleierung.
  2. Unterhaltsvorschuss muss genauso hoch sein wie Mindestunterhalt (Ist er nicht – hier wird das Kindergeld in voller Höhe reingerechnet, also abgezogen. Beim Mindestunterhalt ist das nur hälftig der Fall.)
  3. Unterhaltsvorschuss sollte nicht vom betreuenden Elternteil beantragt werden müssen. Antragsteller muss derjenige sein, der nicht zahlen kann. Der ist schließlich auch der Schuldner. Also Beweislastumkehr beim Unterhaltsvorschuss. (Eine Forderung der Grünen, allen voran von Franziska Brantner.)

Sorgerecht

  1. Leichtere Erreichbarkeit des alleinigen Sorgerechts für AE, die sich nachweislich und über Jahre um alles allein kümmern: Elternteile, die ihr Sorgerecht nicht in Anspruch nehmen und somit auch der Sorgepflicht nicht nachkommen, sollten es nach 3 bis spätetens 5 Jahren automatisch verlieren.
  2. Aufenthaltsbestimmungsrecht: Beendigung der „Fußfessel“ Sorgerecht für den betreuenden Elternteil. Umzüge innerhalb einer Stadt und ggfs. auch weiter weg müssen ohne Einverständnis des anderen Sorgeberechtigten möglich sein, solange die Rechtslage so ist, dass der andere Sorgeberechtigte jederzeit soweit weg ziehen kann, wie er möchte. Keine Mitbestimmung über den Wohnort, wenn der andere Elternteil keine Erziehungsverantwortung übernimmt/keinen Umgang pflegt.
  3. Entscheidungen wie Schule/Kita/Hort sollten der Alltagssorge zugeordnet werden, denn auf welche Schule ein Kind geht, bestimmt meist maßgeblich den Alltag der betreuenden Person. (Halbtag, Ganztags, mit Hausaufgabenbetreuung, und Anfahrtswege – das sind wichtige Parameter!)
  4. Gesundheitssorge: Ob das Kind eine Psychotherapie macht, muss der betreuende Elternteil allein entscheiden können. (Ist jetzt nicht so und manchmal fatal!) Sehr wichtig auch für Diagnostik bei Kinderpsychiatern, um ADS, Autismus, etc. festzustellen. Geht nur mit Einverständnis des anderen Sorgeberechtigten. Medikation, um diese Störungen zu behandeln, ebenso.
  5. Vermögenssorge: Eröffnung eines Girokontos auf Guthabenbasis, wie z.B. ein Schülerkonto, muss auch ohne Unterschrift des anderen Sorgeberechtigten möglich sein. (Geht jetzt nicht, muss notfalls per Unterschriftenersetzung eingeklagt werden.)

Jugendämter

  1. Bessere Ausbildung der MitarbeiterInnen, insbesondere in Bezug auf unbewusste Diskriminierung AE gegenüber.
  2. Schaffung von unabhängigen Ombudsstellen für strittige Entscheidungen (ist vom BMfSJ geplant.)
  3. Einrichtung praktischer, niederschwelliger Hilfen, z.B. für den Krankheitsfall der AE (Haushaltshilfen der Krankenkassen sind eine ungenügende Alternative – viel Aufwand, und dauert meist Tage, bis jemand kommt) und auch als regelmäßige Entlastung im Alltag.
  4. Besonders hohe Zahl der Inobhutnahmen und Fremdunterbringung der Kinder von AE muss unbedingt systemkritisch durchleuchtet werden. AE sind nicht per se schlechtere/unfähigere Eltern – es fehlt an Hilfen und teils werden auch willkürliche, nicht nachvollziehbare Entscheidungen durch die Ämter getroffen. Besonders häufig trifft es Alleinerziehende.

Das war viel, ich weiß. Und wer politische Forderungen für Alleinerziehende umsetzen will, braucht viel Geduld und ein dickes Fell. Aber wenn auch nur ein einzelner Punkt davon in den nächsten Jahren umgesetzt wird, dann ist das schon ein Erfolg. So wie 2017, als Manuela Schwesig als Familienministerin dafür sorgte, dass der Unterhaltsvorschuss nicht mehr nur bis zum Alter von 12 Jahren und länger als maximal 6 Jahre gezahlt wird. Und dass der steuerliche Entlastungsbetrag in Verbindung mit Steuerklasse 2 seit 2020 verdoppelt ist und das auch dauerhaft so bleiben soll, ist auch ein echter Fortschritt.

Politik ist manchmal für Außenstehende wie eine Wundertüte. Aber am Ende auch nur das Ergebnis von Verhandlungen und Lobbyarbeit. Nun, das hier ist mein Beitrag zur Lobbyarbeit. Macht was draus, liebe zukünftige Regierung!

Zwischen harter Arbeit und Glück – Familienurlaub mit Kindern

Am Meer ist es sogar bei Regen schön. Vieles war schön, und doch war es sehr anstrengend, verreist zu sein. Wir sind seit vorgestern zurück in der Stadt, in den eigenen vier Wänden, und vor allem meine autistische Jüngste ist darüber heilfroh.

Wir sind als Familie mittlerweile ein eingespieltes Team, ich denke nicht mehr darüber nach, wie schön es wäre, einen zweiten Erwachsenen dabei zu haben, vielleicht auch, weil das nach fast 12 Jahren des Alleinelebens mit drei Kindern auch irgendwie müßig ist, und ich bin sehr gerne mit meinen Kindern in den Urlaub gefahren. Dass das erholsam sein würde, habe ich nicht erwartet, aber es kamen doch einige Unwägbarkeiten auf mich zu, mit denen ich nicht gerechnet hatte.

Verreisen mit autistischem Kind – zu viel Fremdes und Neues

Dass die Jüngste zum Beispiel nicht aus dem Auto steigen wollen würde bei der Übernachtungsetappe, die ich eingeplant hatte, weil 14 Stunden Autofahren an einem Tag für mich einfach zuviel ist. Es ist weit bis an die Ostsee, und auf halber Strecke haben wir Verwandte, die wir immer besuchen, wenn wir uns auf den Weg ans Meer machen. Zuletzt waren wir vor zwei Jahren da, und das war für meine autistische Tochter ein so langer Abstand, dass sie sich weder an die Verwandten noch an das Haus erinnerte, in dem sie schon so viele Male zu Besuch war. Das waren nun fremde Leute und ein fremdes Haus, und da wollte sie weder rein noch schlafen, und schon gar nicht dort etwas essen oder mit Leuten reden. An mir war es nun, das den Verwandten zu erklären, die’s mit Fassung trugen, und dafür zu sorgen, dass meine Tochter halbwegs stressfrei in das große Zimmer fand, in dem wir schliefen. (Alleine das schon ist ein Stressfaktor, kein eigener Rückzugsraum für sie als Autistin.)

Das mit dem eigenen Zimmer setzte sich dann am Urlaubsort fort, die Wohnung, die wir gemietet hatten, war wunderschön, aber halt nur mit 2 Zimmern ausgestattet – in einem davon schliefen meine Tochter und ich gemeinsam, im Wohnzimmer machte es sich der Sohn auf dem Sofa bequem. Tagsüber hatte meine Tochter unser Zimmer für sich, und dort blieb sie dann auch meistens drin.

Stress durch Urlaub: Sollen wir vorzeitig abreisen?

Es gab viele schöne Momente, und dazu komme ich gleich, aber es war für meine Tochter ausnehmend schwierig, weg von Zuhause zu sein, und das tat mir sehr leid, vor 2 Jahren war das noch anders gewesen. Sie verlor den Appetit (die von mir gekauften Zuhause immer gegessenen Lebensmittel brachen leider den Bann auch nicht, einzig Nutellacrepes vom Strand und doppelte Cheeseburger von McDonald’s gingen noch – dafür fuhr ich dann nach vier Tagen extra in die nächstgrößere Stadt, weil sie so schwach wurde) und stellte die Körperhygiene ein, am ersten Tag musste ich sie sogar daran erinnern, dass sie nach 24 Stunden dringend mal wieder Pipi machen gehen solle, und die fremde Dusche zu benutzen war über den gesamten Urlaub ihr nicht möglich. Sogar Zähneputzen, Zuhause gar kein Problem, konnte sie die ersten vier Tage lang nicht.

Aber nach Hause fahren wollte sie auch nicht, und zwar nicht, weil sie das nicht gewollt hätte, sondern weil sie uns den Spaß nicht verderben wollte. Das rechne ich meiner Tochter hoch an, auch wenn es für mich sehr zwiespältig zu sehen war, denn ich habe ja immer die Interessen und das Wohlbefinden beider Kinder abzuwägen, und im Idealfall auch mein eigenes nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Für mich, das ist jetzt vielleicht etwas besser verständlich, war dieser Urlaub also ein ständiger Tanz auf dem Seil, und auch ich war rechtschaffen erschöpft, als wir hier wieder ankamen.

Familienurlaub mit Kindern ist mehr Teambuilding als Erholung

Für die guten Momente aber war es das absolut wert: das fängt für mich schon damit an, dass wir es überhaupt schaffen, gemeinsam als Familie irgendwo hin zu fahren. Auch das Fahren selbst, 2 Tage im Auto hin und 2 Tage zurück, das früher immer mit heftigem Geschwisterstreit einherging, ist sowas wie ein Sieg, weil es eigentlich ein bisschen verrückt ist, das zu machen. Diesmal ging es ganz ohne Streit, und das ist bei einem autistischem Kind und einem mit ADS, die sehr gegensätzliche Charaktere haben, absolut nicht selbstverständlich. Es gab die ganze Reise über keinen Streit zwischen den Geschwistern, wenn auch nicht große Zuneigung, aber Wunder erwartet ja niemand, bereits das Fehlen von Zwist ist ein großer Erfolg!

Eigentlich ist in den Urlaub zu fahren für mich so etwas wie ein Teambuilding Event, und zwar eins, bei dem ich als sozialpädagogische Begleitung dabei bin. Dass das also kein Urlaub für mich als Elternteil sein kann, liegt auf der Hand. Es tut uns gut, mal rauszukommen aus unserem Trott, speziell dem Sohn, und wir beide haben 11 Tage lang beinahe digital-Abstinenz ganz ohne Qualen durchgehalten, das Handy nehme ich da mal aus, denn sowohl er als auch ich sind ziemlich viel am Computer Zuhause. Ich hab’s genossen, den Rechner aus zu lassen, keine Nachrichten zu schauen, nicht zu arbeiten und mich nur um meine Kinder zu kümmern.

Die erholsamen Momente waren Sternstunden

Ich habe im Strandkorb gesessen und gelesen, ich habe meine Lieblinskusine aus Kiel getroffen, die samt Mann und Kind an unseren Urlaubsort angereist kam für einen Nachmittag, wir haben Jüngstes Freundin aus Hamburg, die nun in Schleswig-Holstein wohnt, und deren Mutter vergangenen Sonntag zu Besuch gehabt, und das war eins der absoluten Highlights dieses Urlaubs für mich, weil meine Tochter so glücklich war.

Sie war auch gücklich am ersten Abend, als wir am Strandkorb standen, und sie sich erinnerte, dass sie an diesem Ort schon gewesen war, da fing sie an, selbstvergessen im Sand zu tanzen (das ist autistisches Stimming-Verhalten), und sie lachte von innen heraus, sie war frei und froh, und es gibt ein Foto von diesem Gückszustand, von uns beiden, wie wir etwas später an der Promenade stehen – ein Moment, den ich nie vergessen werde.

Familie als sicherer Hafen und Basis – und so viel davon!

Und auch der Sohn hatte Glücksmomente, vor allem im Zusammenhang mit der großen Familie, die dort im Ostseebad immer zusammenkommt, und auch mit der Familie, die wir auf der An- und Abreise besuchten. Für ihn als unfreiwillig vaterloses Kind (sein Vater meidet den Kontakt und hat ihn nach der Scheidung weder besucht noch anderweitig versucht, mit ihm eine Beziehung zu erhalten) sind diese Familienzusammenkünfte ein Kraftort, er sieht aus beiden Familien, also auch der des Vaters, so viele wunderbare Menschen, dass er wieder daran glauben kann, fest verankert in einer liebevollen Gemeinschaft zu sein.

Und auch mir tut das gut, denn ich mag meine Familie, auch die angeheiratete, sehr. „Von euch“, sage ich ihnen immer, wenn ich sie besuche, „habe ich mich nicht scheiden lassen!“, und die Schwiegerfamilie liebt mich und meine Kinder wirklich so, als wären wir ihre eigenen. Das zu spüren versöhnt mich mit der Wahl, die ich mit dem Exmann getroffen habe. (Der übrigens keinen Kontakt mehr zu seiner eigenen Herkunftsfamilie hat.)

Himmlische Ruhe im Urlaubsort versus Heimkommen in die Stadt

Was sonst noch schön war? Vor allem die Ruhe. Die Stille in der Ferienwohnung und in dem Ort am Meer, keine Autos morgens um 6 Uhr, die zur Arbeit starten, direkt neben meiner Konstanzer Wohnung im Erdgeschoss, die viel zu nahe am Fußweg und an der Straße ist, keine Autos, die mit laufendem Motor minutenlang vor meinem Balkon stehen.

Keine laut erzählend am Schlafzimmerfenster vorbeilaufenden Menschen nachts, keine Betrunkenen, die gefühlt direkt neben meinem Kopfkissen grölen (das keine 3 Meter vom Fußweg weg ist), keine lärmende Müllabfuhr an mehreren Tagen der Woche morgens um halb 7, keine ohrenbetäubenden Kehrmaschinen auf dem Fußweg oder Straßenreinigung, keine Krankenwagensirenen, und keine Nachbarn, die ihre Kinder anschreien, keine heulenden und kreischenden Kinder, die Ohrfeigen bekommen, was hier im Wohnblock ganz normal ist, und was mir immer mehr unerträglich wird, zusammen mit dem autoritären Erziehungsstil, bei dem Kinder anbrüllen, einsperren und schreien lassen als probate Methode gilt.

Laut ist es hier, und voll. Aber es ist eben auch unser Zuhause, und speziell die Jüngste möchte jetzt erstmal nirgendwo mehr hin. Die gute Nachricht ist, dass sie somit offener für die Verhinderungspflege ist, die ihr mit Pflegegrad 3 zusteht, und ich zukünftig wohl alleine zu Veranstaltungen, Klausurtagungen und Netwerktreffen fahren kann, weil sie ja überhaupt nicht mitkommen möchte, das macht für mich ein weiteres Fenster auf, und ich freue mich darüber.

Mit den Kindern neue Wege gehen und den Kopf frei bekommen

Den Urlaubsort, in dem ich schon bestimmt 20 bis 30 Mal war, habe ich noch einmal total neu kennengelernt, weil mich meine Spaziergänge mit Jüngster an Ecken führten, die ich vorher noch nie gesehen hatte, unter anderem unter Naturschutz stehende Wälder, einen einsamen Strandabschnitt, und viele Straßen, durch die ich vorher nie gegangen war.

Und ich habe die gesamten 11 Tage, die wir unterwegs waren, nicht ein Mal an das leidige Thema Schule gedacht, das mich sowohl beim Sohn als auch bei der Jüngsten sehr beschäftigt, und das seit Jahren eine Belastung ist, auch schon ohne Corona. Runde Tische, Hilfeplangespräche, Therapeutenmeinungen, Jugendamtsgespräche, die Suche nach einem Schulplatz für meine autistische Jüngste, all das hat am Meer keine Rolle gespielt, und das war herrlich. Wir waren draußen, raus aus unserer kleinen Wohnung, am weiten Meer, und wir sind daran gewachsen, was für mich insgeheim auch der Sinn von solchen Unterfangen ist.

Was bleibt vom Urlaub, wenn nicht Erholung?

Erlebnispädagogik selbstgemacht sozusagen, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Dinge verändern sich, neue Perspektiven und Handlungsspielräume tun sich auf, und wir als Familie sind wieder ein Stück weiter gekommen. „Schön war es nicht, aber gut.“ Das ist wohl, was ich antworten werde, wenn mich das nächste Mal eine kinderlose Bekannte ganz unschuldig fragt, ob der Urlaub schön war. Und vielleicht war es auch der letzte gemeinsame Urlaub als Familie, denn mein Sohn ist nächsten Sommer 16 ½, und für Jüngste ist Verreisen offenbar mehr Qual als Freude, das muss gut überlegt werden.

Und trotzdem: Als meine Tochter nach jenem ersten Abend am Meer ins Bett sank, müde von den Strapazen der zweitägigen Reise und all den Eindrücken, aber beeindruckt von dem Gefühl, das sie am Strandkorb erfüllt hatte, sagte sie: „Mama, glücklich zu sein ist sehr anstrengend.“ Ich wusste, dass sie glücklich gewesen war, weil ich es an ihrem Gesicht und ihrem Verhalten gesehen hatte, fragte aber sicherheitshalber nochmal nach, auch damit für sie dieses Gefühl deutlich benannt war: „Das heißt, du warst vorhin glücklich?“, und sie antwortete „Ohja, sehr.“

Und auch beim Sohn sah ich Leichtigkeit, Albernheit, Aufgeschlossenheit und Glück. Was will man also mehr? Kinder glücklich zu machen, kann sehr anstrengend sein. Aber wenn es gelingt, ist es richtig toll. Und wenn die Kinder erwachsen sind, dann mache ich mal richtig Urlaub. Solchen, auf den man vorbehaltlos antworten kann „Ja, danke, der Urlaub war super schön!“ Alleine schon die Vorstellung treibt mir fast die Tränen in die Augen, so lange habe ich das nicht mehr gehabt. Aber jetzt erstmal weiter im Alltag, noch sind die Kinder nicht groß, und noch ist es nicht soweit. Bis dahin werde ich die Zeit mit ihnen bei allen Widrigkeiten als Geschenk sehen.

Linktipp von Silke Bauernfeind, Ellas Blog: „Habt Ihr Euch im Urlaub gut erholt?“

Alltagsheld:innen! Erste bundesweite Stiftung für Alleinerziehende

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Gute Nachrichten, fast schon eine kleine Sensation bzw. eigentlich unfassbar, dass es sowas noch nicht gab bisher: Mit Alltagsheld:innen ist die erste bundesweite Stiftung für Alleinerziehende an den Start gegangen.

Gründerin Heidi Thiemann hat sich schon vergangenen August mit mir hier in Konstanz getroffen, um sich meine Ideen anzuhören und Input zu erhalten, und wir haben sehr nett am Hafen in einer Wirtschaft gesessen (draußen! War ja schon Corona….), Rhabarbersaftschorle getrunken und uns intensiv über die Lage Alleinerziehender und ihre Idee mit der gemeinnützigen Stiftung für diese Familienform unterhalten.

Heidi Thiemann ist erfahrene Gleichstellungsbeauftragte und hat mit Alfred Platow einen Finanzfachmann an der Seite, der ihr bei der Akquise der Stiftungsgelder zur Seite steht. Beide sind seit vielen Jahren beruflich und aktivistisch in mehreren Bereichen unterwegs (Platow eher in der Finanzwelt, mit Öko-Fonds), um die Welt ein bisschen besser zu machen.

Nun also ist die Stiftung ganz offiziell gegründet und ich veröffentliche sehr gerne die Pressemitteilung von Alltagsheld:innen. Ich wünsche viel Erfolg, und dass sich noch etliche SpenderInnen finden sowie ein gutes Händchen bei der Auswahl der Projekte, die die Alltagsheld:innen unterstützen werden. Mit 1,2 Mio Gründungskapital kann man jedenfalls ordentlich was anfangen, das ist eine echte Hausnummer!

Hier die Pressemitteilung:

Hilden, 19.01.2021
Pressemitteilung

Erste bundesweit tätige Stiftung für Alleinerziehende gegründet

Die gemeinnützige Stiftung Alltagsheld:innen hat mit einem soliden Startkapital von 1.200.000 Euro zum Beginn des Jahres 2021 ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist die erste Stiftung, die sich bundesweit ausschließlich für die Rechte von Alleinerziehenden einsetzt. Als Auftakt fördert sie Projekte, die Ein-Eltern-Familien in der Corona-Krise unterstützen.

In Deutschland ist jede fünfte Familie eine Ein-Eltern-Familie – es handelt sich dabei also nicht um ein Ausnahmephänomen, sondern um eine bedeutende Bevölkerungsgruppe. Von den etwa 2,6 Millionen Alleinerziehenden sind 90 Prozent Frauen. Ein erschreckend hoher Anteil lebt an der Armutsgrenze – es gibt in Deutschland kein größeres Armutsrisiko für Frauen, als ihre Kinder allein aufzuziehen. Die Corona-Pandemie stellt für Alleinerziehende eine weitere große Belastungsprobe dar: Sie müssen Berufstätigkeit und Kinderbetreuung, Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut bekommen und sind dabei auf sich allein gestellt.

Die neu gegründete Stiftung Alltagsheld:innen setzt sich für Alleinerziehende ein: Sie macht durch politische Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf die Situation von Ein-Eltern-Familien aufmerksam und fördert wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema.

Die Stiftung leistet keine Einzelfallhilfe, sondern finanziert Projekte, die geeignet sind, grundsätzlich und langfristig zur Verbesserung der konkreten Lebenssituation von Alleinerziehenden beizutragen. So zum Beispiel die Entwicklung innovativer gemeinschaftlicher Wohn- und Arbeitsplatzformen oder hochwertiger und bedarfsgerechter Kinderbetreuungsmodelle, die Ein-Eltern-Familien im Alltag entlasten können. Auch für Projekte im Ausland werden Mittel zur Verfügung gestellt. Erste Projektpartnerin der Stiftung ist eine Vereinigung alleinerziehender Frauen in Marokko, die sich „100% Mamans“ nennt.

In Deutschland startet die Stiftung mit Projekten zur gezielten Unterstützung von Alleinerziehenden in der Corona-Pandemie. Entsprechende Vorschläge und Anträge können ab sofort eingereicht werden. Außerdem ist es nun möglich, sich durch steuerlich absetzbare Spenden am weiteren Aufbau der gemeinnützigen Stiftung zu beteiligen und damit längst ausstehende Veränderungen zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft voranzutreiben.

Mit der Gründung der Stiftung Alltagsheld:innen verwirklichte die geschäftsführende Vorständin Heidi Thiemann ihren Traum von einer bundesweit tätigen Institution, die Alleinerziehende und deren Kinder in den Mittelpunkt rückt. Ausgangspunkt für ihre Vision waren persönliche und berufliche Erfahrungen. Die Kölner Ethnologin hat selbst zwei mittlerweile volljährige Söhne allein großgezogen.

„Alleinerziehenden fehlt es nicht nur an adäquater Unterstützung und Entlastungsoptionen. Sie werden darüber hinaus systematisch benachteiligt – finanziell, rechtlich und sozial. Das kann so nicht bleiben“, stellt Heidi Thiemann fest. „Ich bin deshalb sehr dankbar über die großzügige finanzielle Zuwendung unserer Gründungsstifter:innen und freue mich auf die Umsetzung innovativer Projekte und Maßnahmen, um die Situation von Ein-Eltern-Familien in Deutschland, aber auch in anderen Teilen der Welt, nachhaltig verbessern zu können. Wir sind überzeugt, dass viele Menschen den Wert unserer Ziele erkennen und unsere Arbeit durch Spenden langfristig unterstützen werden. Alle Spenden an unsere gemeinnützige Stiftung sind selbstverständlich steuerlich absetzbar.“

Die Stiftung Alltagsheld:innen sieht sich in der Tradition vieler anderer Initiativen und Verbände, die sich seit Jahrzehnten für die Interessen Alleinerziehender einsetzen.
Bei der Entwicklung von Unterstützungsangeboten setzt die Stiftung auf eine gute Zusammenarbeit mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Die Stiftung mit Sitz in Hilden erlangte im November 2020 ihre Rechtsfähigkeit als eine der neuen Hybridstiftungen, die Verbrauchs- und Ewigkeitsstiftungsanteile enthalten. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige und mildtätige Zwecke.

Kontaktdaten
Nähere Infos: www.alltagsheldinnen.org

Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an Heidi Thiemann, geschäftsführende Vorständin, Tel.: 0156 78376323, E-Mail: thiemann@alltagsheldinnen.org.

Link zum Flyer von Alltagsheld:innen: hier.

Als meine Mutter starb

Der Tod meiner Mutter hat mich aus dem Leben gerissen. Nicht sie wurde aus dem Leben gerissen – sie wollte nach langer schwerer Krankheit, wie man das zu sagen pflegt, gehen, und es war alles geplant, bis auf ein paar Kleinigkeiten am Schluss, die sie nicht hatte kommen sehen.

Ansonsten war es der perfekte Tod, genau so wie sie es wollte, in ihrem Zuhause, in ihrem eigenen Bett, sogar die Lieder für ihre Beerdigung hat sie uns noch diktiert und Kleidung für den Sarg herausgelegt. Meine Mutter ist so gestorben, wie sie gelebt hat: Sie sagte, wo es lang ging. Als sie noch sprechen konnte, gute zwei Tage vor ihrem letzten Atemzug, murmelte sie, als ich bei ihr auf dem Bett saß, die Beine unter ihrer Decke, weil sie sich das gewünscht hatte, es war gemütlich wie damals, als ich noch ein Kind war, „Es ist alles gut geregelt, ja?“, und ich antworte, dass sie alles sehr gut geregelt habe. Dann schloss sie wieder die Augen, denn am Ende sind die Menschen oft müde zwischen den Phasen, in denen sie nochmal kurz in der Welt vorbeischauen.

Es war nicht immer leicht mit meiner Mutter, und ich habe erst vor etwa 10 bis 20 Jahren gelernt, sie einfach so anzunehmen, wie sie war. Da hatte sie sich aber auch schon verändert, sie war weicher geworden, wirklich streng und unnachgiebig war sie nur noch sich selbst gegenüber. Ein Kind des zweiten Weltkriegs, das selbst ein höchst problematisches Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter hatte – sie verriet mir erst vor einigen Jahren, dass sie froh war, als ihre Mutter starb, und das zuzugeben, muss sie einiges an Überwindung gekostet haben -, ein traumatisierter Mensch, eine hoch begabte und als junge Mutter sehr einsame Frau, die an postpartalen Depressionen gelitten hatte, was in den 60er Jahren keine relativ normale Diagnose war, gegen die man etwas hätte tun können, sondern für ihren Arzt ein Grund zu sagen, sie solle sich nicht so anstellen, das Kind sei doch gesund, und ihr abhängig machende Beruhigungsmittel aufzuschreiben, die sie gleich wieder absetzte, weil sie sich damit so entrückt fühlte.

Sie war immer da, wenn man sie brauchte, sie war zupackend und hilfsbereit, und sie war großherzig. Nebenbei war sie wunderschön, ihr Leben lang und auch im Sterben noch. Dass sie nun nicht mehr da ist, ist, weil ihr Tod so lange dauerte, nämlich insgesamt fast 2 Jahre, auch gar nicht schwer zu begreifen, sie starb die ganze Zeit, in Kliniken, im Krebszentrum, in der Reha, in der nächsten Klinik, dann wieder Zuhause, aber zuletzt war sie noch mit meinem Vater im Urlaub an der Ostsee, im August, und sie ging noch ein letztes Mal im Meer baden, das sie immer so geliebt hatte.

Eigentlich ist also alles gut. Abgesehen davon, dass meine Mutter tot ist, und ich sie nicht mehr anrufen kann. Was nicht gut ist, ist das Gefühl, dass das Leben so bedeutungslos ist. Am Ende, egal was man tut, liegt man bestenfalls in seinem eigenen Bett, bekommt schmerzlindernde und glücklich machende Medikamente, und dämmert mehr oder weniger weg. Man wird immer weniger, bis die Seele langsam den Körper verlässt, und dieser nur noch ein kleines, zerbrechliches Häuflein ist. Ich war die letzten Tage und Wochen vor ihrem Tod alle zwei bis drei Tage da, in ihrem Garten, in ihrem Wohnzimmer, als sie dort noch sitzen konnte. Jedes Mal, das ich kam, war etwas weniger von meiner Mutter da, die am Ende nur noch 35 Kilo wog, und auch da bestand sie noch darauf, mich zur Tür zu bringen und mir nachzuwinken, bis 10 Tage vor ihrem Tod.

Das alles zu sehen, ist tatsächlich bis ins Mark erschütternd. Und dass mein Vater es ausgehalten hat, ihr die letzten Tage und vor allem Nächte Gesellschaft zu leisten, bis auf die wenigen Stunden, die mein Bruder und ich ihn ablösten, damit er mal raus kann, ist ein ungaublicher Liebesdienst. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, und ich weiß auch nicht, ob ich möchte, dass das jemand für mich tut. Es ist wirklich viel verlangt.

Sterbende Menschen machen Geräusche, sie wälzen sich herum, sie rudern mit den Armen, und ganz am Schluss wird der Atem rasselnd. Manche bekommen auch Panik oder werden orientierungslos, das war bei meiner Mutter zum Glück nicht so, aber ich hätte gut darauf verzichten können, am Abend bevor sie starb, das Zähneklappern zu sehen, das ihr Kiefer vollführte, es ist ein Bild, das mir nie wieder aus dem Kopf gehen wird.

Am Ende kommen wir alle in eine Kiste, sei es in die Erde, so wie sie es wollte, zurück zur Natur, oder in eine Urne, die versenkt oder verstreut wird. Und vielleicht ist dann nicht einmal mehr wichtig, wen wir geliebt haben und wer unsere Familie war, denn wir sind allein. „Was für eine interessante Tochter ich habe“, sagte meine Mutter bei einem der letzten Besuche, und dass sie sehr stolz auf mich sei. Nie war ich ihr so nah und so fern wie in den Tagen vor ihrem Tod. Aber ich war da, als sich mich brauchte, so wie sie für mich da war, wenn ich sie brauchte.

Das Sterben aus so großer Nähe zu begleiten, hat mich ein Stück weit aus dem Leben gerissen. Die alltäglichen Sorgen erscheinen so lächerlich auf einmal, sogar solche, die theoretisch groß sind, wie die Frage, ob und wie die autistische Tochter beschult werden kann, nachdem nun schon die zweite Schule nicht der richtige Ort für sie war (in beiderseitigem Einvernehmen), und auch ein Schulbegleiter für sie keine nützliche Hilfe ist. Oder wie die Diagnostik für ihren Bruder, der sehr wahrscheinlich auch zumindest am Rand des Spektrums zu verorten ist bzw. neurodivers, und all die Probleme im Zusammenhang mit der Schule, die damit einhergehen bei ihm. Es ist egal, ich werde das natürlich regeln, so wie ich bisher immer alles geregelt habe, aber ich nehme es nicht mehr ernst.

Eine Woche, bevor meine Mutter starb, lag sie auf dem Familiensofa im Wohnzimmer, und ich wusste, ich würde sie ab jetzt nur noch liegend sehen. Da wollte ich von ihr wissen, ob es noch etwas wichtiges gibt, das sie mir sagen wolle. Ich dachte an Lebensweisheiten oder einen Tipp, aber sie sagte mir etwas, das sie bereute. „Ich hätte früher nachsichtig sein sollen mit dir und deinem Bruder“, war was sie loswerden wollte. Es reute sie zutiefst, so streng gewesen zu sein, und so hohe Maßstäbe an uns angelegt zu haben. Als sie das sagte, fing ich an, sehr zu weinen, weil das wirklich etwas gewesen wäre, das mir meine Kindheit sehr viel leichter gemacht hätte, und vielleicht auch mein ganzes Leben. Aber sie starb, und so nahm ich sie in den Arm und sagte, dass alles gut so war, wie es war, denn das war das, was sie in dem Moment hören musste, und es war nicht einmal gelogen, denn ich weiß, sie hat es so gut gemacht, wie sie konnte. Die Familie war ihr Leben.

Sie hatte keine Angst, zu sterben, und sie hatte keine Schmerzen. Besser kann man kaum sterben, sagte das Palliativteam, das am Ende täglich vorbeischaute und auch bei der praktischen Pflege half. Und trotzdem ist Sterben so richtig Scheiße. Ich hatte es mir leichter vorgestellt, schneller, irgendwie eindeutiger, nicht als so einen langen Prozess. Jetzt ist die Frau tot, die mich in ihrem Bauch ausgetragen hat und auf die Welt brachte.

Das Gedächtnis meiner Kindheit liegt in einem Kiefersarg auf dem Dorffriedhof unter der Erde. Ich kann sie nicht mehr anrufen, um sie dies und das kurz zu fragen, oder um ihr zu erzählen, dass ich meine Olivenbäume winterfest gemacht habe und die Zweige gekappt. „Wenn du noch etwas wissen willst, musst du jetzt fragen“, hatte sie in den letzten Monaten immer wieder gesagt, aber ich wollte nichts fragen, weil ich nicht wollte, dass sie stirbt. Noch nicht, sie war doch so zäh, und immer so gesund gewesen! Und nun weiß ich nicht mehr, wie das Medikament hieß, das sie gegen die postpartalen Depressionen nehmen sollte, und ich kann sie nicht mehr fragen. Und wann mein Opa Otto gestorben ist, was ich gestern gerne gewusst hätte, als ich mit meinem Vater telefonierte, der sich aber auch nicht an das Jahr erinnerte.

Ist auch egal, even a pyramid won’t last, sangen schon Alan Parson’s Project. Welchen Sinn macht es dann, Dinge aufzuschreiben? Ich hab lange nicht mehr gebloggt, ich habe darüber nachgedacht, es komplett sein zu lassen, denn ich hatte das Gefühl, nichts zu sagen zu haben bzw. viel zuviel zu sagen zu haben, und da wieder eine Balance hinzubekommen, wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein. Dieser Text ist ein Anfang. Oder ein Ende.

Zu viele Bälle in der Luft (Mental Load)

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Wie lange habe ich eigentlich nicht mehr gebloggt? Ich muss nachgucken, ich weiß es nicht. Fast zwei Monate ist das her. Die Zeit rast, ich habe das Gefühl, nichts erledigt zu bekommen, aber ich weiß, woran das liegt, mein Kopf ist zu voll, tausend Dinge, an die ich denken muss, Sorgen, die ich mir mache, und praktische Erledigungen, die da noch am ehesten tatsächlich erledigt werden, einfach weil ich sehe, dass da etwas gemacht werden muss.

Das Leben scheint ein ewiger Kreislauf aus Sorgen, Nöten, langweiligen oder unangenehmen Terminen, wo bleibt da die Freude, der Spaß? Aber hat man überhaupt Anspruch auf Spaß, wenn doch so viel zu tun ist?

Ich schlafe tief und viel, das ist gut, aber so bleibt weniger vom Tag übrig. Der Tag ist voll, so voll, dass meine Physiotherapeutin, zu der ich wegen der Schmerzen im Knie gehe, die ich habe, seitdem ich mit Jüngster im Herbst 2019 verreiste und vor lauter nach Jüngster gucken mitten im Basler Bahnhof sehr schmerzhaft auf die Knie stürzte, auf harten Steinboden, sodass die Umstehenden erschrocken fragten, ob alles okay sei, was ich wegen des Schocks bejahte, dass also die Physiotherapeutin ungläubig fragt, ob ich es wirklich nicht schaffe, 5-10 Minuten täglich aufzubringen, um meine Übungen zu machen.

Warum ich das nicht hinbekomme, kriege ich nicht gut erklärt, aber ich denke an meine Kinder, während ich in der Physiotherapie sitze, und wie das alles weitergehen soll mit der Schule, das ist schon so lange ein Problem bei sowohl dem Sohn als auch der autistischen Tochter, und nix wird besser, egal, was ich versuche, trotz aller Runder Tische, Psychiatertermine und meiner Engelsgeduld, nur die mehr oder weniger deutlich geäußerten Vorhaltungen derjenigen, die finden, meine Kinder müssten besser funktionieren, die bleiben gleich. Ich kenne das schon, und doch macht es mürbe.

Und meine Mutter, die stirbt. Ach, meine Mutter, die immer so gesund, so stark und so bestimmt war, jetzt bestimmt sie ihren Tod, das Palliativteam ist vor Ort, ich denke über meinen Vater nach, wie das werden soll, wenn sie nicht mehr da ist, und ob ich dabeisein soll, wenn sie stirbt, und wie lange es wohl noch dauert, bis sie stirbt, die Beerdigung, und wie kalt ihre Hände waren, als ich sie kürzlich besucht habe. Meine Mutter hat immer warme Hände gehabt, sie war der Inbegriff von Gesundheit, alle Frauen in ihrer Familie wurden sehr alt, wieso stirbt sie denn jetzt vor meinem Vater, und vielleicht sterbe ich dann noch früher, als ich dachte, ich habe ja jetzt schon die Autoimmunerkrankung, in meinem Alter war meine Mutter noch kerngesund, und was soll dann aus den Kindern werden, wie soll das mit Jüngster weitergehen?

Wird sie jemals ohne mich leben können, macht sie einen Schulabschluss, wie soll sie klarkommen, das Kind hängt so dermaßen an mir, dass sogar der Schubesuch ein großes Problem ist, Schulbegleiter hin oder her, und sie will doch so gerne lernen und unter Kinder, ich muss beim Autismusbeauftragten nachfragen, ob das klappt mit dem Schulwechsel, aber selbst wenn das klappt, sehe ich nicht, wie das alles gehen soll, und morgen ist der Termin für ihren Intelligenztest in der Fachpraxis, das darf ich nicht vergessen, und ich muss sie rechtzeitig wecken, hoffentlich macht sie dann dort auch mit. Aber es war ja ihr ausdrücklicher Wunsch, den Test zu machen, also machen wir das jetzt.

Vorhin der Blick in den Küchenkalender um kurz nach 18 Uhr, da stand ein Gynäkologentermin für sie drin, den ich total vergessen habe, dabei war der wichtig. Gestern hab ich der Nachbarnin noch erzählt, dass ich da heute mit dem Kind hingehe, ich wusste das doch, wieso ist mir der Termin ausgerechnet jetzt entfallen, verdammte Axt!? Aufs Band bei der Praxis sprechen und sich entschuldigen, es tut mir furchtbar leid, das ist sonst nicht meine Art, Termine zu verschludern, aber ich habe zu viel um die Ohren. Hoffen, dass ich einen neuen Termin fürs Kind bekomme, und zwar bald, denn das ist eilig und wichtig, und zum Kinderarzt müsste sie auch, wegen der Warzen, Kleinkrams, aber auch da muss ich dran denken. Und wann ist eigentlich die Brille fertig, die wir vor einer Woche ausgesucht haben? Die müsste doch eigentlich längst fertig sein, da muss ich morgen auch anrufen und nachfragen.

Der Exmann, der jetzt arbeitslos ist, laut Brief der Beistandschaft, und warum tut er das, was soll das, er konnte doch die letzten beiden Jahre eh keinen Unterhalt zahlen, weil er ja leider, leider unter dem Selbstbehalt verdiente und die Firma seiner Frau überschrieben hat, aber darüber will ich mich ja nicht mehr ärgern, aber was soll das jetzt!?

Winterschuhe, die schneefesten, habe ich bestellt, die kommen übermorgen. Und eine dicke Jacke für den Sohn auch, in der Wunschfarbe, hoffentlich passt und gefällt sie ihm. Ich brauche noch ein Folgerezept für die Physiotherapie, da muss ich auch anrufen und hinfahren, wenn ich das Rezept bekomme, wovon ich schon ausgehe, denn die Knie tun weiterhin weh und die Ärztin hatte gesagt, ein Folgerezept sei kein Problem. Da kann ich dann gleich noch Nachschub für mein Schilddrüsenmedikament holen, die sind im selben Ärztehaus, und ohmann, zum Gastroenterologen muss ich ja auch bald wieder, der ist auch da im Haus, und meine Blutwerte überprüfen lassen und an das Rezept für meine Medikation der Autoimmunerkrankung denken. 500 Meter daneben ist die Zahnarztpraxis, in der ich seit 5 Jahren nicht mehr war, da hab ich Mitte November einen Vorsorgetermin, aber auch nur, weil mir der Zahn neben meinem Implantat wehtut, und zwar am Nerv, und das ist nicht gut, gar nicht gut, bloß keine Wurzelspitzenentzündung jetzt, das ist das letzte, was ich jetzt brauche, würde aber sehr gut zu meiner Verfassung passen.

Die Freundin gestern, die fragte, ob sie mich umarmen dürfe, sie habe so lange niemanden mehr umarmt, der es geht wie mir, alleine mit Kindern, wer umarmt uns denn, wie sollen wir das alles durchstehen, nochmal noch mehr ohne Menschen sein und nun auch noch ohne das Licht des Sommers, ohne die Wärme, das wird hart werden, dabei ist es jetzt schon so hart. Wir darben.

Was wollte ich nochmal? Achja, Abendessen kochen. Jüngste hat Hunger. Die Fraktionssitzung läuft noch, ich hab mich ausgeklinkt, ich musste schreiben. Das war jetzt wichtiger. Die Nachbarn klingeln, sie brauchen Hilfe bei einem Brief, den sie der Wohnbaugesellschaft schreiben wollen, und ich helfe auch gern, nur nicht jetzt sofort. Jetzt muss ich schreiben, weil ich sonst durchdrehe. Und atmen. Ganz langsam atmen. Nee, kochen. Ich muss jetzt kochen. Und dann schlafen. Morgen wartet ein neuer Tag voller freudloser Dinge, die getan werden müssen. Aber essen muss man trotzdem.

Immerhin weiß ich jetzt, das heißt Mental Load, also alles zusammen, aber davon dass ich das weiß ist es ja noch nicht weg, speziell als Alleinerziehende ganz ohne Hilfe. Es bleibt am Ende halt doch alles an mir hängen. Sehen Sie es mir nach, es ist einfach zuviel. Ich gebe mir Mühe, und es reicht nie. Deswegen bin ich jetzt müde. Sehr müde. 9 Stunden Schlaf, dann funktioniere ich morgen wieder. Muss ja.

Statement zur Reform des Umgangs- und Sorgerechts

Vergangenen Freitag, den 26.06., war ich in Berlin im kleinen Kreis zu einer Gesprächsrunde mit Familienministerin Franziska Giffey im BMfSJ eingeladen. Es sollte um die geplante Reform des Umgangs- und Sorgerechts gehen, zu dem das Justizministerium bereits im Herbst 2019 eine Expertenrunde eingeladen hatte, die erste Ergebnisse und eine (bedenkliche!) Richtung vorgaben.

Anwesend waren 10 Interessensvertretungen getrennt lebender Eltern und ich. Es hatte im Vorfeld Kritik an der Auswahl der eingeladenen Gäste gegeben, weil weibliche, feministische Alleinerziehendenperspektiven in dieser Runde unterrepräsentiert waren – darauf bezieht sich meine Anmerkung zu den patriarchalen Frauen im Statement. (Patriarchale Frauen sind perfekt ans Patriarchat angepasste Frauen, die vom System profitieren und es erhalten möchten. Sie sehen sich übrigens selbst gerne als „moderne“ Feministinnen. Wer sich weiter informieren möchte, dem lege ich „Das Versagen der Kleinfamilie“ von Mariam Tazi-Preve, Professorin für Politikwissenschaft und Geschlechterforschung, ans Herz.)

In dieser Runde erschienen also neben 4 Männern für Väterrechteverbände auch 3 Frauen für Verbände, die Väterrechtlern nahestehen – Stichwort Wechselmodell als Leitbild und sogenannte gleichberechtigte Elternschaft nach einer Trennung (Vor der Trennung aber nicht. Also nicht zu verwechseln mit Equal Care.) Väterrechtlerpositionen waren somit mit 7 Teilnehmern in der Überzahl. Ich wusste also, ich muss da hin – ich konnte doch die anderen beiden Frauenrechtlerinnen von Mia e.V. und Shia und den neutralen VAMV nicht im Stich lassen!

Die Gesprächsrunde war trotz teils weit auseinander liegender Positionen zwischen den einzelnen Interessensverbänen konstruktiv und gut, und dauerte genau zwei Stunden. Frau Giffey hörte beeindruckend gut zu, und die Moderation durch Sabine Walper war souverän. Besonders eindrücklich konnte man das beobachten, wenn sie einen Teilnehmer in seinem ausufernden Wortbeitrag unterbrechen musste – und mir wiederum fiel auf, dass sie dies vornehmlich bei den männlichen Teilnehmern der Väterrechteverbände tun musste, die zu denken schienen, für sie gelte die Redezeitbegrenzung nicht. Dieses typisch männliche Redeverhalten in öffentlichen Gremien oder auch im Geschäftsleben nehme ich als fast omnipräsent wahr, seitdem ich davon im ebenfalls sehr empfehlenswerten Buch „What Works. Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann“ von Iris Bohnet, Professorin für Verhaltensökonomie, gelesen habe.

Über den Inhalt der Gesprächsrunde wurde Vertraulichkeit vereinbart, weswegen ich nicht weiter ins Detail gehen werde, was genau besprochen wurde. Having said this, hier mein Statement – das übrigens exakt 3 Minuten lang war, und somit dem entsprach, was den TeilnehmerInnen im Vorfeld schriftlich kommuniziert worden war:

Sehr geehrte Frau Dr. Giffey, sehr geehrte Frau Professor Walper, liebe Anwesenden,

Zuerst einmal herzlichen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, meine Stimme bei diesem wichtigen Thema einzubringen.

Ich bin hier ein bisschen in einer Sonderrolle, weil ich anders als die anderen Interessensvertretungen keinen Verband repräsentiere, sondern als eine Art Einzelkämpferin auftrete. Das passt aber ganz gut, denn viele Alleinerziehende sind Einzelkämpferinnen, weil ihnen die Kraft und auch die finanziellen Ressourcen für politisches Engagement fehlen. Diese gesellschaftliche Schieflage spiegelt sich auch recht deutlich in der Liste derjenigen wider, die heute hier eingeladen sind, zu sprechen. Väterverbände und patriarchale Frauen haben deutlich bessere Möglichkeiten als alleinerziehende Mütter, sich politisch Gehör zu verschaffen und es gibt strukturelle Gründe dafür.

Deswegen bin ich hierhergekommen, und auch, weil ich weiß, dass viele Frauen da draußen ihre Hoffnungen auf mich setzen. Sie haben Angst, durch die geplanten Reformen mitsamt ihren Kindern noch weiter in die Benachteiligung zu rutschen.

„Frauen können alles“, sagen Sie, Frau Dr. Giffey, gerne. Und „Alle Frauen müssen die Möglichkeit haben, ein eigenes, selbstbestimmtes und freies Leben zu führen“, so steht es in dem Vorwort über die Mütter des Grundgesetzes. Ja, so sollte es sein. Aber es ist jetzt schon so, dass eine Frau, die sich trennt oder verlassen wird, kein selbstbestimmtes freies Leben mehr führen kann, wenn es gemeinsame Kinder gibt und das gemeinsame Sorgerecht gilt. Sie kann ohne Einverständnis des anderen Elternteils nicht mehr umziehen, das Kind kann keine Psychotherapie machen, wenn der andere Elternteil es nicht will, sie kann nicht einmal ein einfaches Girokonto auf Guthabenbasis fürs Kind eröffnen, sie kann nicht alleine entscheiden, welche Schule das Kind besucht, was massive Auswirkungen auf die Berufstätigkeit der Frau haben kann, und muss sich Entscheidungen zum Wohle des Kindes mühevoll und kostenintensiv vor Gericht erstreiten.

Besonders schlimm ist das, wenn sich die Frau aus einer Gewaltbeziehung befreit hat und gemeinsame Kinder da sind. Noch immer steht das Umgangsrecht über dem Gewaltschutz, und noch immer wird die Istanbulkonvention in Familiengerichten ignoriert.

Denken Sie, das ist mein Appell, bei allen Änderungen nicht nur an die große Masse der Wähler, sondern haben Sie auch die vulnerablen Familien im Blick. Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland leider immer noch ein großes Problem, und die betroffenen Kinder, die teilweise jetzt schon aufgrund vermeintlicher Entfremdung, an der die Mutter Schuld habe, von Familienrichtern im Wechselmodell platziert werden, sind darauf angewiesen, dass die Politik sie nicht vergisst.

Kein Vater kann zum Umgang mit seinem Kind gezwungen werden, wenn er keine Lust auf sein Kind hat. Das Kind hingegen wird – notfalls mit Gewalt und von der Polizei – zu seinem Vater gebracht, wenn dieser darauf besteht. Auch wenn es schreckliche Angst davor hat und das nicht möchte. Kinder, darauf können wir uns hoffentlich einigen, sind kein Besitz und Elternrechte dürfen nicht über den Kinderrechten stehen, die übrigens meiner Meinung nach unbedingt ins Grundgesetz gehören.

Mein Fazit: bitte denken Sie bei allem, was Sie in dieser Sache beschließen, auch an die 10-15% der Familien, in denen es nach der Trennung hochstrittig zugeht, und in denen die Frauen häufig jetzt schon vor dem Familiengericht den Kürzeren ziehen. Denken Sie an die Frauen und Kinder, die Gewalt erlebt haben. Und scheren Sie nicht alle Familien über einen Kamm, wir brauchen weiterhin Einzelfallentscheidungen.

Vielen Dank.

12von12 im Juni 2020

Wann habe ich zuletzt bei #12von12 mitgemacht? Das muss ewig her sein! Mai 2019, sagt meine Suche im Blog. Es ist also über 1 Jahr her – du meine Güte!

Heute früh, als ich durch Twitter scrollte, fand ich einen Servicetweet von Carola @frischebrise, der an die #12von12 erinnerte, und dieser Tatsache habt Ihr also meine Bilder zu verdanken, sonst hätte ich das wieder verpennt.

Als ich aufstehe und ins Wohnzimmer gehe, steht da immer noch das nagelneue Fahrrad von Jüngster, das ich ihr im Internet bestellt habe, weil es das, was sie wollte, vor Ort nicht gab. Nämlich ein Rad mit Rücktritt, 3 Gängen, einem 24 Zoll Rahmen in blau. Ich habe es vormontiert erhalten und gestern zusammengebaut –  viel war zum Glück nicht zu tun, nur Sattel und Lenker einstellen sowie die Pedale anschrauben.

Der Olivenbaum steht in voller Blüte, es summen die Bienen und Hummeln darin, und auf dem Boden sammeln sich die Blütenblätter – das ist ein bisschen lästig, weil man in diesem Stadium ständig fegen muss. Aber schön anzusehen.

Wäsche abhängen im Waschkeller. Sieht genau so aus, wie man sich sozialen Wohnungsbau vorstellt, und ich bin auch wirklich nicht gerne da. Aber in den letzten Tagen war es zu kalt, um die Wäsche draußen im Freien aufzuhängen.

Am Nachmittag fahre ich zur Gärtnerei, weil meine Blumen auf dem Balkon alle ziemlich verblüht sind. Ich liebe diesen Ort!

Konstanzer wissen, wo ich bin. Für nicht Konstanzer sage ich es: Im Gartencenter Spiegel in Allmannsdorf, keine Werbung, nix bezahlt, einfach harte Liebe für einen traditionellen Familienbetrieb.

Zuhause topfe ich die neu erstandene schwarzäugige Susanne gleich um – das ist eine Rankenpflanze, die ganz wunderhübsch und üppig wächst, wenn sie Platz hat.

Danach fahre ich noch auf dem schönsten Weg der Welt, dem Rheinkilometer 1, mit dem Rad zu Edeka, um Einkäufe zu erledigen. Es ist so herrlich warm, dass ich spontan…

die Schuhe ausziehe und ins Wasser laufe. Wundervoll! Aber noch recht kalt, es reicht mir heute prima, bis zu den Knien nass zu werden. Angebadet wird also ein anderes Mal.

Nach dem Einkauf habe ich mal wieder mehr dabei, als eigentlich auf mein Fahrrad passt. Aber es geht trotzdem.

Zeit für ein Glas Wein auf dem Balkon. Als Gesellschaft hole ich mir @lavievagabonde, Jasmin Schreiber, dazu. Sie liest gerade live auf Insta.

Zu Abend gibt es selbstgemachte Hamburger mit viel knusprigem Bacon, das geht immer. Das Hackfleisch ist Bio, aber verliert trotzdem sehr viel Wasser und Fett. Anyway, lecker.

Und um 21:30 gehe ich nochmal kurz zur Fahrradbrücke, um die Abendstimmung einzufangen. Eine schöne Nacht. Aber ich muss nach Hause. Auf dem Rückweg atme ich nochmal tief durch und lasse Erinnerungen passieren. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft passen gerade gut zusammen. Ein guter Tag.