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Essen gehen mit autistischem Kind: Ein Versuch

Ins Lokal, mit drei Kindern, von denen eins Asperger Autistin ist? Ist das eine gute Idee? Ein Bericht aus Elternsicht.

Essen gehen, das würde er so gerne mit uns machen an seinem Geburtstag, sagte mein Sohn ein paar Tage vor seinem 13. Geburtstag zu mir. Ich seufzte kurz, denn bei uns ist das nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch wegen der Autistin in der Familie eine heikle Sache.

Mein Sohn ist ein Sandwichkind, er hat noch eine große Schwester (18) und eine kleine Schwester (10), die diagnostizierte Asperger Autistin ist. Und oft genug ist es so, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Geschwisterkinder viel zu kurz kommen, weil die Jüngste sehr viel Aufmerksamkeit und Betreuung von mir braucht. Gerade als Alleinerziehende ist das eine schwierige Aufgabe, weil ich merke, dass ich eigentlich nur Mängel verwalte: Mängel an Zuwendung und Zeit, ich kann nie allen Kindern gerecht werden.

SEK besondere Familie

Diesmal aber, zum Geburtstag des Sohns, wollte ich ihm gerne seinen Herzenswunsch erfüllen. Die Frage war nur, wie ich es möglich machen sollte, und ob das gehen würde, gemeinsam mit allen Geschwisterkindern. Ich hatte quasi einen ganzen Kriterienkatalog abzuarbeiten, bevor ich dieses waghalsige Unternehmen in die Tat umsetzen konnte.

Warum? Weil für meine autistische Tochter fremde Räume, fremde Gerüche, Menschen und Geräusche schnell zu einer Überforderung führen. Sie nimmt alles sehr intensiv wahr und fühlt sich rasch bedroht, insbesondere, wenn man sie direkt anschaut oder überraschende Bewegungen auf sie zu gemacht werden, oder wenn Menschen zu dicht an ihr dran sind und sie sogar berühren. Sie mag das nicht und sagt das auch sehr deutlich, was dann beim Gegenüber oft für totales Unverständnis sorgt. (Die meisten Menschen verstehen das nicht und machen die Sache nur noch schlimmer, wenn sie ihr auf die Pelle rücken, um nachzufragen, was denn los ist.)

Abgesehen von diesen allgemeinen, für viele Autisten typischen Schwierigkeiten im öffentlichen Raum und mit Menschen, hat meine Jüngste auch noch eine sehr ausgeprägte Abneigung gegen Abbildungen von Jesus am Kreuz, wie er hier im Süden häufig als Holzschnitt in den Gastwirtschaften zu finden ist, im sogenannten Herrgottswinkel. Jesus am Kreuz gruselt sie, weil sie Mitleid mit ihm hat, und wenn ich darüber nachdenke, ist das auch wirklich gruselig, nur habe ich als neurotypischer Mensch gelernt, das auszublenden. Meine Tochter, die Sinnenseindrücke ganz anders verarbeitet, kann das nicht.

Es galt also ein Restaurant zu finden, das jesusfrei ist. Außerdem sollte es in Laufweite zu unserer Wohnung sein, falls es der Jüngsten zu anstrengend werden würde. Es sollte dort eine Speisekarte geben, auf der jedes Familienmitglied etwas findet (auch die Vegetarierin!), und bezahlbar musste es obendrein sein. Gar nicht so einfach, aber ich hatte Glück: Ich fand eine nette, badische Wirtschaft, die laut Webseite sogar W-Lan für die Gäste bereithält, und dort reservierte ich einen Tisch für 4 Personen.

Gute Bedingungen verbessern die Chance, dass meine autistische Tochter sich wohlfühlt

Als es dann soweit war, am Freitagabend, war ich schon etwas nervös. Würde es klappen, dass wir dort alle 4 einen schönen Abend verbringen? Alle bisherigen Versuche, gemeinsam Essen zu gehen, waren mehr oder weniger grandios gescheitert. Diesmal, so hoffte ich, würde ich besser vorbereitet sein.

Und ja, es klappte! Folgende Dinge trugen zum Gelingen bei (Ich wage nicht, sie Tipps zu nennen, aber vielleicht hilft es ja anderen Eltern, die auch mit ihrem Asperger Kindern essen gehen wollen):

  • Das Kind saß mit dem Rücken zum Raum und war so nicht so vielen visuellen Reizen ausgesetzt, der Stuhl stand so im Raum, dass sie nicht angerempelt wurde
  • Sie saß direkt neben mir, und konnte jederzeit Körperkontakt suchen, gegenüber sah sie ihre Geschwister und eine Wand
  • Der Geräuschpegel war erträglich für sie (weniger laut als in der Schule) und es lief nur ganz leise Musik
  • Das W-Lan funktionierte. Sie hat es dann kaum gebraucht, um Minecraft zu spielen (Wir hatten das Tablet dabei), aber die Gewissheit, sich ins Spiel zurückziehen zu können, war hilfreich
  • Wir haben die Speisekarte vorher angeschaut, im Internet, und bereits Zuhause überlegt, was sie essen möchte (mit Alternativgerichten, falls es das Gewünschte nicht gibt!)
  • Der Grundzustand meiner Tochter war entspannt, sie hatte vorher einen guten Nachmittag erlebt und sogar mit einer der wenigen noch verbliebenen Freundinnen draußen gespielt. (Dieses Element ist leider nicht steuerbar.)
  • Es war klar, dass sie jederzeit nach Hause kann, wenn es zuviel wird. Egal, ob sie jemand die 250 Meter begleitet oder sie alleine gehen möchte
  • Beim Bestellen habe ich der Bedienung mitgeteilt, dass sie bitte Fleisch und Beilagen separat bringen möge, weil mein Kind Autistin ist und es nicht mag, wenn sich die Speisen berühren
  • Vorher hatte ich mit Jüngster abgesprochen, ob es für sie okay ist, wenn ich das der Bedienung auch exakt so sage. (Ja klar, sagte sie – sie erzählt sowieso jedem freimütig, dass sie Autistin ist. Es hilft ihr, sich klar zu positionieren.)
  • Ich fragte während des Restaurantbesuchs mehrfach nach, ob es ihr gut geht, und ob sie sich wohlfühlt und achtete noch stärker als sonst auf die Signale, die sie aussendete, obwohl die Geschwister ein bisschen die Augen rollten, weil sie das „Getue“ um die Kleine manchmal nervt – verständlicherweise

Essen gehen – ein Erlebnis, das die Familie zusammenbringt

Und es war richtig schön. Wir haben nicht nur hervorragend gegessen, sondern einen echt entspannten Abend gehabt. Die Kinder hatten sogar noch Lust auf Eis mit heißen Himbeeren hinterher, und es schwebte dieser besondere Zauber über dem Tisch, den ich aus meiner Kindheit kenne. Denn meine Eltern gingen gerne mit uns Kindern essen, und ich habe das immer sehr genossen, weil die Gespräche ganz anders waren als am heimischen Wohnzimmertisch, und weil Essen gehen eine besondere Art von Nähe herstellen kann.

Eis mit Himbeeren und Wunderkerze

Diese Nähe vermissen meine Kinder oft im Alltag, wenn der Autismus unser aller Leben bestimmt und gerade den Geschwisterkindern viel Anpassung abverlangt, mehr, als ein Kind leisten sollte – und genau deswegen war es so schön, dass das mit dem Essen gehen klappte. Genau so soll es eigentlich sein, und dass das in meiner Familie meist nicht geht, macht mich zwar manchmal traurig, aber an diesem Abend nicht. Da haben wir gemeinsam ein kleines Wunder vollbracht. Und wenn ich Geburtstag habe, im Juni, dann versuchen wir das nochmal.

Es war einer dieser Tage, die Mut machen. Manche Dinge gehen halt doch. Against all odds.