In der Schule, und auf dem Schulweg, und bis man überhaupt erstmal aus dem Haus kommt mit einem autistischen Kind, können viele Sachen schiefgehen.
Der Morgen begann holprig, wie so oft in letzter Zeit. Im Winter ist es schwieriger als im Sommer für meine autistische Tochter (9), gut in den Tag zu kommen, denn sie trägt nicht gerne Kleidung, und wenn, dann muss die weit und weich sein. Strümpfe gehen eigentlich gar nicht, die darf ich ihr nur 2-3 Mal im Jahr anziehen, Unterhemden auch nicht, fast alle Jacken fühlen sich für sie an wie Gefängnisse, und naja, im Winter kann man halt nicht mit einem leichten Sommerkleid in die Schule gehen.
Mittlerweile merkt sie auch, wenn ihr kalt wird, das war bis vor einem Jahr nicht der Fall, da fand sie, man könne auch im Winter prima mit kurzen Hosen und ohne Jacke in die Schule gehen, nur Mützen, die trug sie komischerweise immer gern, schon als kleines Mädchen. Genau andersherum als die meisten anderen Kinder, die sich Mützen meist empört vom Kopf reißen. Dass sie die Kälte nun spürt, macht die Sache aber nicht einfacher, denn sie beschwert sich dann bei mir über das Wetter, worauf ich leider keinen Einfluss habe, aber obwohl ich das schon oft erklärt habe, ist sie mit dieser Sachlage höchst unzufrieden.
Kleidung ist ein großes Thema für viele Autisten, die meisten ertragen nur weiche und bestimmte Kleidungsstücke, die Schildchen müssen aus den Anziehsachen herausgeschnitten werden, und es darf auf keinen Fall irgendwie drücken und klemmen. Auch Berührungen sind für Autisten meist schwierig, sie werden als feindseliger Akt und Übergriff empfunden, so ist das auch bei meiner Tochter. Nur ich darf mit ihr kuscheln, und das sogar ausgiebig, sie ist ein sehr verschmustes Kind, und das auch immer gewesen. Damit ist sie, soweit ich das weiß, die Ausnahme.
Zurück zu unserem Morgen – heute zog sie sich sogar die Schuhe alleine an, das ist etwas, was sie selbstredend kann, seitdem sie in den Kindergarten ging, aber das manchmal mangels Frustrationstoleranz nicht klappt, besonders wenn es morgens eigentlich schnell gehen soll.
Ich nahm ihren Ranzen, den ich auf meinen Schultern trage, wenn ich sie zur Schule begleite, denn wie viele autistische Kinder empfindet sie Strecken, die sie gehen muss, als total beschwerlich. Und wenn dann noch ein Schulranzen auf dem Rücken ist und die Jacke unter den Trägern verrutscht oder drückt, dann ist das ziemlich schnell eine Überforderung. Dass die Leute komisch gucken, wenn sie mich mit einem normal aussehenden Kind zur Schule laufen sehen, während ich den Ranzen trage, daran habe ich mich gewöhnt.
An der Schranke, auf halbem Weg zur Schule, fing Jüngste auf einmal an, mich zu boxen. Ihr war eingefallen, dass sie nicht wusste, welchen Film die Klasse für heute, den letzten Schultag, als Film ausgewählt hatte, den sie alle gemeinsam anschauen würden. Und Unsicherheiten hasst meine Tochter, ebenso wie Planänderungen. Auch damit ist sie typisch autistisch. Dass eine auf ihre Mutter einboxende 9-Jährige Irritationen hervorruft, weiß ich, kann ich aber nicht ändern, also konzentrierte ich mich, wie immer in solchen Momenten, auf mein Kind und atmete tief durch. Irgendwie schafften wir die letzten 200 Meter zur Schule dann auch noch, und waren sogar pünktlich.
An den Treppen zum Schuleingang trafen wir die Lehrerin, die uns freundlich grüßte. „Frag sie, Mama! Frag sie!“, befahl meine Tochter, denn solch eine soziale Handlung ist für sie eine große Hürde. Um ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen, quetschte sie fest meine beiden Arme und versteckte sich hinter meinem Rücken, wie sie das oft tut. Ich bin so etwas wie ein Werkzeug für sie, oder ein Begleithund, so fühlt sich das jedenfalls an.
Nun, es war der „falsche“ Film, den die Klasse ausgewählt hatte, wie wir erfuhren. Also nicht der, den sie sich gewünscht hatte. Und somit schafften wir es nicht in die Schule hinein, wir drehten um. Mein Kind zog an mir, und wenn ich ihr nicht gefolgt wäre, dann wäre sie weggelaufen. Auch das ist ein typisches Verhalten von Autisten: Weglaufen oder Angreifen, wie so ein ganz ursprünglicher Reflex. (Angucken mögen die meisten auch nicht, ich muss da immer an Hunde denken, die das ja auch als unangenehm und Zeichen von Aggression werten. Der einzige Mensch, der meine Jüngste angucken darf, bin ich. Bei allen anderen hasst sie es.)
Wir gingen also wieder heim, und ich seufzte. Ohne Schulbegleitung, die uns als Inklusionsmaßnahme zusteht und auch vom Jugendamt bereits bewilligt ist, aber die erst Ende Januar eingesetzt werden wird, klappt hier im Moment kaum etwas in Sachen Schule. Für meine Tochter ist das sehr frustrierend, und auf dem Rückweg von der Schule hielt sie sich den Kopf und sagte, „Mama, mein Leben ist so schrecklich, warum ist das alles so schwierig?“, und dass ihr Kopf explodiere. Und für mich ist das natürlich auch frustrierend, aber da ich mit meinem Kind mitfühle, ebenfalls schrecklich. Nichts ist schlimmer, als wenn das eigene Kind schwer krank oder todunglücklich ist, oder?
So trafen wir, beide frustriert, wieder Zuhause ein. Dort legte sich die Jüngste aufs Sofa und schimpfte noch ein bisschen vor sich hin. Erst als ihr Bruder, der noch Zuhause war, dazu kam und sie fragte, was denn los sei, antwortete sie wieder in halbwegs normalem Tonfall. Die beiden kappelten sich und mein Sohn hat ihr dann wohl kurz scherzhaft auf den Kopf geklopft, wie ich hinterher hörte. Ich zog gerade meine dicken Stiefel im Flur aus, als ich meine Tochter auf einmal lachen hörte. „Hahaha, die Sorgen aus dem Kopf schlagen, das ist ja einfach!“, kicherte sie, und schlug sich ganz leicht mit der Hand auf den Hinterkopf.
Da musste auch ich lachen. Denn dass Autisten gerne mal alles wörtlich nehmen, hatte ich ja kürzlich schon verbloggt und weiß man. „Funktioniert das denn, die Sorgen aus dem Kopf schlagen, Jüngste?“, erkundigte ich mich. „Geht es dir jetzt besser?“
„Ja“, nickte sie.
Vielleicht sollte ich das auch mal probieren. Einfach mal die Sorgen aus dem Kopf schlagen. Aber ich hämmere sie ja eher in die Tasten rein. Zack, Sorgen weg!