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Was Ihr nicht seht – aus dem Leben mit autistischem Kind

Intro: Ich habe es mir nicht leicht gemacht. Soll ich darüber schreiben oder nicht? Will ich die Behinderung, und das ist Autismus in den meisten Fällen, verschweigen? Wem tue ich einen Gefallen, schade ich meinem Kind, und was von dem, was wir erleben, mache ich öffentlich?

Seit Ende Oktober weiß ich, dass eins meiner drei Kinder Autist ist. Welches Kind von den dreien, das habe ich bisher auf twitter, wo ich gelegentlich unter dem Hashtag #WasIhrnichtseht Ereignisse aufgeschrieben habe, nicht preisgegeben. Es ist ein Hashtag, der bevorzugt von Autisten und Eltern autistischer Kinder genutzt wird, und ich habe über ihn einige Blogs und Twitterer gefunden, die mir Rückhalt geben.

Rückhalt ist wichtig, und auch Erfahrungen und Tipps, wenn man es mit einem autistischen Kind oder Partner zu tun hat. Das ist nämlich krass anstrengend. Autismus ist zwar ein Spektrum, was bedeutet, dass er mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt sein kann, und es gibt verschiedene Parameter, an denen festgemacht wird, wie stark jemand betroffen ist. Aber anstrengend, und zwar für den Autisten und seine Familie, ist es immer, soweit ich das bisher mitbekommen habe.

Autisten nehmen es sehr genau mit den Worten, und deswegen bitte ich alle Autisten, die jetzt und in Zukunft hier mitlesen, um Nachsicht – versucht, mir meine Ungenauigkeiten nachzusehen. Ich werde mich als neurotypischer Mensch nicht so ausdrücken können, dass es Euren Ansprüchen genügt. Falls Ihr mir etwas erklären wollt, lerne ich gerne dazu. Aber so genau wie Ihr werde ich nie sein können.

Das Ende des Versteckspiels

Wenn ich von unserem Leben als Familie mit autistischem Kind erzählen möchte, werde ich nicht umhin kommen, auch zu erzählen, um welches Kind es sich handelt. Denn sonst bleibt zu viel von dem, was wir erleben, so vage, dass Ihr es euch nicht vorstellen könnt. Wie alt das Kind ist spielt eine Rolle, und ob es in der Grundschule ist oder in der weiterführenden Schule, ob die Pubertät schon eingesetzt hat, und wie es sich in seiner Freizeit beschäftigt.

Ich kann also nicht verschweigen, ob es die Jüngste (9), der Sohn (12) oder die Große (18) ist. Ich werde auch hin und wieder den Vater der Kinder erwähnen, der nach meiner Einschätzung und auch aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls Autist ist, und dessen Verhalten mit der Diagnose für mein Kind auf einmal sehr viel Sinn macht. Denn Autismus hat – vorsichtig ausgedrückt – eine genetische Komponente, auch wenn es viele Theorien gibt, wie diese Besonderheit entsteht. (Dass Genetik maßgeblich ist, steht für die Neurologen und Psychiater im Netz fest. Und für mich auch.)

Zwischen Autismus-Spektrum, Asperger, Behinderung und Besonderheit

Je nach Schweregrad der Symptome ist Autismus eine mehr oder weniger starke Behinderung. „Störung“, sagen die einen, „Krankheit“ die anderen, und als Mutter eines autistischen Kindes würde ich mittlerweile eher sagen, dass es eine Besonderheit ist, die halt die „Normalen“ stört und das Zusammenleben behindert. Autisten, so auch mein Kind, sagen häufig von sich, sie fühlten sich wie vom anderen Stern, und irgendwie ist es so.

Autismus, so sagt es Wikipedia, ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, und an dieser Stelle sei angemerkt, dass die gängigen Subtypen mittlerweile umstritten sind, und man meist nur noch von Autismus-Spektrums-Störungen spricht. Trotzdem nennen sich viele Autisten Asperger-Autisten, und auch mir gegenüber sagten die Fachleute in Freiburg, die ich letztenendes aufsuchte, relativ schnell, man vermute Asperger. Für mich passt die Bezeichnung, weil die beschriebenen Symptome so deutlich ausgeprägt sind.

Ich sage also bis auf weiteres: Mein Kind ist Asperger-Autist, was etwas anderes ist als frühkindliche Autisten, die schon sehr früh auffällig sind und eher den gängigen Vorstellungen über Autisten entsprechen. Aspergerkinder sind bis zum Alter von 4 oder 5 ziemlich normal. Vielleicht drücken sie sich etwas speziell aus, vielleicht sind sie ein bisschen später mit der Motorik – so wie mein Kind, das erst mit 17 Monaten anfing zu laufen, ansonsten aber bis auf einen starken Willen keine Anzeichen von Besonderheiten zeigte. „Durchsetzungsfähig“, nannte man es im Kindergarten und beim Kinderarzt, und die Kinder im Hof tanzten alle nach seiner Pfeife. Es musste alles so sein, wie es sich das vorstellte, sonst begann es zu wüten – anfangs wirkte das wie Trotz.

Wie ich darauf kam dass mein Kind Autist sein könnte

Nur hörte die Trotzphase nicht auf, sondern wurde scheinbar immer ausgeprägter. Ganz schlimm wurde es, als die Schule begann – in der ersten Klasse benahm sich das Kind in der Schule unauffällig, ließ aber seine ganze Anspannung Zuhause an mir aus. Es schrie, tobte, biss, haute mich, es beschimpfte mich auf unflätigste Art, teilweise bis zu 45 Minuten lang. Das war schwer zu ertragen, und ist es immer noch.

Die Anlässe dafür waren nichtig – manchmal war es einfach wahnsinnig wütend, weil Dienstag war und nicht Montag. Oder weil die Bücherei am Montag nicht geöffnet hat, oder weil ein Freund gerade zum Fußballtraining ging, und keine Zeit für mein Kind hatte. Diese Wut, die Fachleute Overloads und Meltdown nennen (und deren Anlass tatsächlich nicht nichtig ist, aber für Nicht-Autisten kaum nachvollziehbar), ist je nach Anlass und Ausprägung, schwer auszuhalten und teilweise beängstigend. Ab Sommer 2016 war mir klar: Das ist definitiv nicht normal. Ich suchte also Hilfe.

Ab hier könnte ich einen Roman schreiben, und vielleicht tue ich das irgendwann auch. Aber um das abzukürzen: Wir begannen eine #Diagnostikodyssee, die viele hässliche Momente und inkompetente Kinderpsychiater sowie eine Klinik beinhaltete, die eine falsche Diagnose stellte.

Zwei Jahre und drei Monate später halte ich nun endlich die korrekte Diagnose in den Händen, mit der ich auch der Schule und dem Jugendamt gegenüber ganz anders auftreten kann – das ist wichtig, denn mein Kind braucht eine Schulbegleitung, die das Jugendamt bezahlen muss (Inklusion), und die Schule kann Erleichterungen gewähren. Außerdem kann ich nun „beweisen“, dass das Verhalten meines Kinds nicht daran liegt, dass ich ihm keine Grenzen setzen kann oder unfähig bin, es zu erziehen. Sowas wird Eltern von autistischen Kindern übrigens ständig vorgehalten – die Menschen wissen es einfach nicht besser.

Über Autismus und das Familienleben schreiben – warum?

Womit wir wieder beim Ausgangspunkt dieses Texts sind. Ich habe mich also entschlossen, über Autismus und unser Familienleben zu schreiben. Weil ich selbst früher überhaupt nichts darüber wusste, weil ich merke, wie wenig Lehrkräfte, Nachbarn, auch Ärzte und überhaupt alle über Autisten wissen. Und weil ich hoffe, dass es dem einen oder anderen von Euch etwas nützt. Außerdem würde ich mich gerne mehr mit Autisten und Angehörigen von Autisten austauschen.

Ich werde Szenen aus unserem Alltag berichten, und ich werde die Gratwanderung meistern müssen, mein Kind nicht bloßzustellen. Denn mein Kind ist absolut großartig, ich sehe es nicht als „krank“ und „gestört“, sondern tatsächlich als besonders (Die Intelligenz von Asperger Autisten ist übrigens meist normal, manchmal gibt es auch Inselbegabungen). Dass ich mich überhaupt traue, das Leben mit meinem autistischen Kind öffentlich zu machen, verdanke ich Mirco von Juterczenka, der ein hinreißendes Buch über seine Reisen mit Jason geschrieben hat, und den ich auch persönlich kenne, weil wir beide 2017 für denselben Preis in der Kategorie „Elternblogger“ beim Goldene Blogger Award nominiert waren (Den haben die zwei völlig verdient gewonnen). Mirco hat mir gezeigt, dass das gehen kann – sein Kind schützen und trotzdem erzählen.

Lektion 1, die mich mein autistisches Kind gelehrt hat:

Wer mir schon länger folgt, und wer mich auf twitter liest, weiß vielleicht auch längst, welches Kind das sein muss – es ist das Kind, das immer die dollsten Dinge sagte, und mit Sprache so penibel umgeht wie ein Juwelier mit seinen Schätzen, dass es mir als Sprachwissenschaftlerin eigentlich eine helle Freude sein müsste. Außer, wenn es anfängt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Dann macht es mir die Hölle heiß. Leider versteht es auch manchmal Dinge völlig anders, als ich sie gesagt habe, und dann haben wir ein Problem. Und weil es so viele Dinge gibt, die im Umgang mit Autisten zu beachten sind, will ich jeden Text mit einer Lektion enden lassen. Die erste, und eine der wichtigsten Lektionen ist:

Diskutiere nie mit einem Autisten über Formulierungen. Du verlierst, egal wer Recht hatte.