Vorweg: Was Ihr unten nachlesen könnt, dauerte 17 Minuten in live, und ist hier auf FB im Stream nachschaubar. Spitzenkandidatin Katharina Schulze hatte mich als externe Expertin eingeladen.
Und es hat sich gelohnt, die 800 km dafür zu der #ldk18 der Grünen Bayern zu fahren. Obwohl ich jetzt, am Tag danach, völlig im Eimer bin. Denn vor so vielen Menschen zu sprechen, ist nicht ohne! (Und 17 Minuten sind lang. Ich hab sowas ja noch nie gemacht. Nach etwa 10 Minuten musste ich mich echt sammeln. Aber hey, es war gut. Und am Ende gab es Standing Ovations.)
Liebe Sigi Hagl und lieber Eike Hallitzky, liebe Annalena Baerbock, liebe Katharina Schulze, liebe Grüne,
zuerst mal herzlichen Dank, dass ich hier stehen darf und Ihnen etwas aus der Lebenswelt von Alleinerziehenden erzählen kann, das dann hoffentlich – vielleicht – wahrscheinlich – in Ihre Entscheidungen und in Ihre politische Arbeit einfließt.
Denn wie bei anderen „vulnerablen Gruppen“, wie man das nennt, wenn eine soziale Gruppe sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht gut für ihre eigenen Interessen einsetzen kann, erleben es auch Alleinerziehende oft, dass eher über sie gesprochen wird und über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, als mit ihnen.
Sie, liebe Grüne, machen das anders. Dass jemand wie ich eingeladen wird, um an politischen Ideen und Lösungen zu arbeiten, ist noch lange nicht selbstverständlich. Katharina Schulze hat es mit dem ersten Alleinerziehenden-Netzwerktreffen im Bayerischen Landtag in diesem März vorgemacht, und alleine, dass es so eine Veranstaltung gab, hat vielen Alleinerziehenden Mut gemacht, die ihre und meine Arbeit in den sozialen Netzwerken verfolgen.
Wir haben bei diesem Netzwerktreffen über ganz konkrete Probleme von Alleinerziehenden gesprochen, und gemeinsam überlegt, was zu tun wäre, damit es uns und unseren Kindern besser geht. Denn alleinerziehend zu sein ist eben nicht, wie die AfD sagt, ein selbstgewählter Lebensentwurf, der keinerlei soziale oder staatliche Unterstützung verdient. Alleinerziehend zu sein ist in den seltensten Fällen geplant und bedeutet vor allem drei Dinge:
- Stress durch oftmals komplett allein getragene Verantwortung
- Finanzielle Unsicherheit und jahrelange Geldnot
- Und daraus resultierend drittens: Mangel an Teilhabe, für die Kinder, wie auch für die alleinerziehenden Elternteile
Dabei sind Alleinerziehende weder besonders dumm noch faul, im Gegenteil. Es sind ganz normale, zu 78 % gut oder sehr gut ausgebildete Frauen und Männer. (Ich rede meist von Frauen, weil alleinerziehend zu sein immer noch eine Frauendomäne ist mit fast 90% weiblichen Alleinerziehenden.)
Sie sind auch nicht unfähig, sich Hilfe zu holen. Es gibt nur keine! Jedenfalls keine niederschwellige Hilfe, was sehr für Ihren Vorschlag spricht, dezentrale und innovative Beratungsstrukturen zu schaffen, die unmittelbar und wirksam helfen können. Alleine das wäre schon ein Segen!
Durch meine Arbeit in den sozialen Netzwerken und durch meinen Blog, den ich nun schon fast 7 Jahre lang betreibe, bin ich sehr nah dran an den Sorgen und Nöten von Alleinerziehenden. Und deswegen weiß ich auch, abgesehen von meinen persönlichen Erfahrungen als komplett alleinerziehende Mutter von drei Kindern, wie verzweifelt viele Alleinerziehende sind, wie sehr sie das Vertrauen in die Politik verloren haben, und nicht zuletzt, was sie im Alltag bewegt.
So rief zum Beispiel Ihr Vorschlag im Programmentwurf, die Kinderbetreuung auch zu Randzeiten auszubauen, bei einigen Alleinerziehenden erstmal blanke Panik und Ablehnung hervor. „Warum!?,“ fragt man sich da, wenn man nicht selbst in dieser Situation steckt oder jemanden kennt, die betroffen ist.
Ich kann es Ihnen sagen: Weil viele Alleinerziehende schon jetzt extrem gestresst und überlastet sind durch das ständige Jonglieren von Erwerbsarbeit und allem, was rund um das oder die Kinder zu tun ist, denn da hängt ja auch noch ein Haushalt dran und was wir wirklich nicht vergessen dürfen: Kinderseelen.
Kinder großzuziehen braucht auch Zeit, das sagt sogar die Bertelsmannstiftung in ihren Berichten, die sonst eher auf harte Fakten und Zahlen setzt.
Jedes Kind, so banal das klingt, braucht Zeit mit der oder den Bezugspersonen, und nicht nur eine – egal wie gute! – Aufbewahrung, damit Geld verdient werden kann. Und gerade Trennungskinder brauchen manchmal etwas mehr Zeit und Fürsorge als solche aus klassischen Familien. Speziell wenn noch Therapiebedarf da ist, und sei es nur die stinknormale Ergotherapie zur Förderung der Motorik, die übrigens bei armen Kindern im Schnitt ebenso schlechter entwickelt ist wie ihr Konzentrationsvermögen, für die noch Zeit gefunden werden muss.
Hobbys wie Sportverein und Musikinstrumente fallen auch bei armen Kindern tendenziell flach, weil die Eltern weder Zeit, noch Nerven, noch Geld haben, sie dem Nachwuchs zu ermöglichen. Da hilft leider auch kein Bildungs- und Teilhabekpaket in der jetzigen Form.
Es braucht also nicht nur Geld, sondern auch Zeit, ein Kind großzuziehen, das passiert nicht nebenbei. Aber es schwierig bis unmöglich, eine entspannte, zugewandte Mutter oder auch Vater zu sein, wenn man einfach mehr zu tun hat, als ein Mensch unter normalen Umständen schaffen kann.
Alleinerziehende machen nämlich drei Jobs in einem:
• Sie sind Familienernährerinnen (und an dieser Stelle erinnere ich daran, dass 50% der Alleinerziehenden keinen Unterhalt für Ihr Kind bekommen, und weitere 25% nur unregelmäßig oder zu wenig Unterhalt!)
• Sie kümmern sich um den Haushalt, wofür wohlhabendere Paarfamilien oder Singles Hilfe einkaufen können
• Und sie erziehen, trösten, kuscheln und begleiten ein Kind, und jeder hier, der/die Kinder hat, weiß, dass das gerade in den ersten Jahren sehr viel Kraft braucht
Wenn man sich das vor Augen hält, ist nicht überraschend, dass viele Alleinerziehende in Umfragen angeben, so gut wie nie Zeit für sich selbst zu haben. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass Alleinerziehende besonders burn-out gefährdet sind. Am Ende bedeutet dies wahrscheinlich sogar eine kürzere Lebenszeit, denn dass Stress um bis zu 10 Jahre lebensverkürzend wirkt, ist belegt.
Gemeinerweise profitieren von der Familienarbeit von Alleinerziehenden und ihrer prekären Situation ausgerechnet kinderlose Singles oder Ehepaare ohne Kinder, die steuerlich bevorzugt werden, weil unsere Kinder später die Rente von genau jenen Menschen, die jetzt nicht in Stress und Armut leben, erwirtschaften müssen.
Alleinerziehenden hingegen winkt als Belohnung für ihr familiäres Engagement sehr wahrscheinlich die Altersarmut, die sowieso Frauen überproportional häufig droht, oder aber ein früherer Tod durch stressbedingte gesundheitliche Probleme, man muss es so drastisch sagen.
Deswegen ist auch der Satz aus ihrem Programm, dass Familie dort ist, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, so richtig und wichtig.
Und auch eine Garantierente, die Altersarmut verhindert, ist ein in meinen Augen richtiger Ansatz – allerdings sollte sie auch Kindererziehungszeiten Alleinerziehender berücksichtigen, denn Alleinerziehende kann man ebenso als pflegende Angehörige sehen wie Menschen, die sich um pflegebedürftige Ältere kümmern.
Sie fragen sich nun wahrscheinlich, was das alles mit dem Ausbau von Kinderbetreuung zu tun hat, bei der ich gerade eben noch war, und die doch eigentlich zur Entspannung, zumindest was die Finanzen betrifft, beitragen sollte.
Nun, wenn Sie sowieso schon am Anschlag sind mit Ihren persönlichen Ressourcen, dann erschreckt Sie der Gedanke, noch weniger Zeit fürs Kind zu haben und noch mehr Zeit bei der Arbeit zu verbringen.
Das heißt aber nicht, dass Ihre Idee, die Kinderbetreuung auszubauen, falsch wäre. Man muss aber den Alleinerziehenden vermitteln, dass das nicht getan wird, damit Chefs die Frauen zwingen können, abends bis 20 oder 22 Uhr im Einzelhandel oder in der Pflege zu arbeiten. Sondern, damit sie überhaupt die Chance haben, mehr als in Teilzeit zu arbeiten und die ständigen Geldsorgen im besten Falle hinter sich zu lassen.
Und vielleicht ist dank besser ausgebauter Kinderbetreuung sogar mal etwas Zeit für die Frauen selbst drin: Für einen Kaffee mit der Freundin, für Sport oder wie Astrid Lindgren es Pippi Langstrumpf so schön sagen lässt, „um einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen“. Das täte dann nämlich indirekt auch den Kindern gut. Eine einkommensunabhängige Kindergrundsicherung, wie sie in Ihrem Programm steht, würde dabei sehr, sehr helfen.
Dass frühkindliche Bildung in unseren Kindertagesstätten langfristig beitragsfrei sein sollte, wie es in Ihrem Programm steht, ist dabei ein weiterer Mosaikstein. Denn auch wenn viele Alleinerziehende mangels finanzieller Ressourcen Zuschüsse zur Kinderbetreuung erhalten, so ist dies auch immer mit Papierkrieg verbunden. Alles, was dazu beiträgt, den Kindern von Alleinerziehenden Teilhabe zu ermöglichen, ohne mit ständigen Ämtergängen und Formularen verbunden zu sein, würde sehr effektiv Druck aus den Familien nehmen.
Das ist nämlich das schlimme an Armut – sie führt dazu, dass sich Menschen zurückziehen. Und dass sie vielleicht Hilfen nicht in Anspruch nehmen, die ihnen eigentlich zustünden, weil ihnen eh schon alles zu viel ist. Und unter diesem sozialen Rückzug leiden dann die Kinder.
Ich weiß von Familien, in denen die Eltern Angst davor haben, dass ihre Kinder schon wieder auf einen Kindergeburtstag eingeladen werden, weil das bedeutet, dass ein Geschenk für 8-10 Euro gekauft werden muss. Manche behaupten sogar vor lauter Scham, das Kind habe an dem entsprechenden Tag schon etwas vor. Da hilft auch keine Offenheit gegenüber den anderen Eltern, selbst wenn man den Mut hat zu sagen, dass das Geld gerade knapp ist, denn welches Kind traut sich ohne Geschenk auf einen Geburtstag!?
Die Zahlen zu Kinderarmut, speziell bei Alleinerziehenden, sind beschämend für so ein wohlhabendes Land wie Deutschland. Wir wissen seit dem Februar diesen Jahres, dass die mit 44% sowieso schon sehr hohe Armutsgefährdung von Alleinerziehenden und ihren Kindern realistisch betrachtet noch viel höher ist, weil die konventionelle Berechnung der Armut die besondere Lage von Alleinerziehenden geschönt darstellt. Ganze 68 % der Alleinerziehenden statt „nur“ 44%, also mindestens zwei von drei Kindern, leben in Wahrheit an der Armutsgrenze, und das über Jahre, sagt die Bertelsmannstiftung. Und je mehr Kinder eine Alleinerziehende hat, um so armutsgefährdeter ist sie.
Das ist auch kein Wunder, denn eigentlich braucht man, um ein Kind zu ernähren, 1,5 Einkommen. Dies zu erwirtschaften, ist aber selbst bei guter Ausbildung und enormer Motivation kaum möglich, wenn man nebenbei auch noch alleine für ein Kind zuständig ist, mal ganz abgesehen davon, dass es für Alleinerziehende nicht nur wegen mangelnder Kinderbetreuung, sondern auch wegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt enorm schwierig ist, überhaupt einen festen Job zu finden.
Viele Alleinerziehende arbeiten weit unter ihrem Ausbildungsniveau in dementsprechend schlecht bezahlten Berufen, und müssen ihr Gehalt durchs JobCenter aufstocken lassen, um überleben zu können. Auch hier wartet ein unermüdlicher Papierkrieg, der an den Nerven zehrt.
Was wünsche ich mir also von Ihnen, und zwar nicht nur ich persönlich, sondern ich als jemand, die völlig ungeplant zur Lobbyistin und Expertin für Alleinerziehende wurde?
Erstens: Bleiben Sie dran. Damit meine ich: Denken Sie die Dinge auch aus der Alleinerziehendenperspektive, und bleiben Sie mit uns im Dialog. Das hilft nicht nur den Alleinerziehenden, sondern auch den Grünen, davon bin ich überzeugt.
Viele Alleinerziehende sagten mir bei der letzten Bundestagswahl, sie wüssten nicht, wen sie wählen sollen, es interessiere sich sowieso niemand für unsere Anliegen. Das stimmt so nicht, zum Glück, aber es muss auch bei den Frauen ankommen, dass sie gesehen werden und Sie sich für ihre Anliegen einsetzen.
Ich habe übrigens im letzten Sommer öffentlich gemacht, dass für mich die Grünen die vernünftigste Frauen- und Familienpolitik machen, was hoffentlich zu ein paar mehr Stimmen geführt hat und nicht nur dazu, dass mich die Friedrich-Ebert Stiftung nun nicht mehr zu Diskussionen einlädt. ?
Wenn Sie die Dinge aus Ihrem Programmentwurf beschließen, die Alleinerziehende, Kinderarmut und Familien betreffen, ist das ein gutes Signal in meinen Augen. Aber ich wäre nicht Alleinerziehenden-Lobbyistin, wenn mir nicht noch mehr Sachen einfielen, die ich mir von der Politik wünsche.
Das zweite, was ich mir von Ihnen und der Politik wünsche, sind praktische Hilfen im Alltag für Alleinerziehende. Das könnten Haushaltshilfen sein, die anstatt einer Mutter-Kind Kur für 3 Stunden pro Woche im Alltag Entlastung bringen – von den Kosten her käme das ungefähr auf dasselbe raus.
Und wirklich dringend nötig wären auch Notfallsysteme, wenn eine alleinerziehende Mutter plötzlich krank wird und zum Beispiel wegen Grippe oder einem heftigen Magendarm-Virus sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern kann. Ein einziger Anruf bei einer Notfallnummer müsste ausreichen, und jemand würde kommen und sich kümmern – nicht so, wie es jetzt ist, dass die kranke Person sich erst noch zum Arzt schleppen muss, um ein Attest zu bekommen, mit dem sie dann bei der Krankenkasse vorstellig werden muss zur Bewilligung, wonach sie sich selbst bei den freien Trägern um Hilfe zu bemühen hat, die im Regelfall erst nach 2-3 Tagen einsatzbereit ist.
Das ganze Prozedere kostet viel mehr Kraft, als eine akut erkrankter alleinerziehender Elterneil hat, und ich kenne keine Alleinerziehende, die nicht schon in der schlimmen Lage war, nicht nur selbst krank zu sein, ohne umsorgt zu werden sondern auch noch trotz Krankheit zuständig für ein kleines Kind, das mehr oder weniger sich selbst überlassen war.
Und dann hätte ich noch ein letztes Anliegen für heute: Ich wünsche mir schließlich auch noch Jugendämter, in denen Alleinerziehende nicht als defizitäre Familienform, die besonders argwöhnisch zu betrachten ist, angesehen werden. Unser Jugendhilfesystem ist absolut nicht darauf ausgerichtet, Alleinerziehende und ihre Kinder niederschwellig und wohlwollend zu begleiten.
Das ist zwar kein speziell bayerisches Problem – was die Sache nicht besser macht – sondern ein bundesweites, aber da Sie hier in Bayern auch die mit Abstand weiteste Rückholquote beim Unterhaltsvorschuss haben und säumige Elternteile mit viel Engagement verfolgen, kann ich mir auch vorstellen, dass der politische Wille, Jugendämter und ihre Mitarbeiter zu wohlwollenden Begleitern von Alleinerziehenen zu machen, etwas ausrichten kann.
Und mit dieser Zukunftsmusik will ich Sie nun Ihren Debatten überlassen. Ich hoffe, ich konnte dazu beitragen, dass Sie Lust haben, sich für uns einzusetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!