Wir gingen spazieren, wie so oft in letzter Zeit. Bei diesen Spaziergängen redet meine jüngste, autistische Tochter (11) meistens recht viel, und ich höre zu.
Sie erzählt von ihren Freunden aus dem Internet, mit denen sie Spezialinteressen wie Gacha Life Videos oder Minecraftspielen teilt, und ich sage „Aha, hm, hm, das wusste ich noch gar nicht“, und ab und zu stellt sie auch sehr ernsthafte Fragen.
Ich wusste, dass sie keine geschönte Antwort haben möchte, sondern eine ehrliche und pragmatische, als meine Tochter mich heute fragte, was mit ihr passiert, falls ich an Corona erkranke und sterbe. Schließlich hat sie nur mich als Bezugsperson, und sie ist zwar Autistin, aber keinesfalls dumm – super logisch zu denken ist eine ihrer großen Stärken.
Viele Kinder von getrennten Eltern haben keinen Kontakt zum Vater
Es schwierig, auf diese Frage mutmachend zu antworten, insbesondere als alleinerziehender Elternteil. Viele Kinder von Alleinerziehenden verlieren in den Jahren nach der Trennung komplett den Kontakt zum Elternteil, der ausgezogen ist, was meist der Vater ist. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber zumindest soweit ich das überblicken kann, liegt es oft daran, dass sich die gekränkten Väter zurückziehen und das Gefühl haben, sie sollten nur noch als Zahlesel dienen und würden der Exrau Geld in den Rachen schmeißen. Sie fühlen sich entfremdet und entfremden sich dabei selbst vom Kind, und das ist tragisch für alle Beteiligten.
Und so wachsen fast 90% der Kinder von Alleinerziehenden bei Frauen auf, von ihnen hat etwa ein Fünftel keinen Kontakt zum anderen Elternteil, meist dem Vater. Das sind sehr viele Kinder, und auch sie werden sich gerade fragen, was passiert, wenn ihre Mutter an Corona stirbt, falls sie schon alt genug sind, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.
Notfallpläne für kranke Alleinerziehende fehlen auch ohne Coronakrise
Denn es ist ja in vielen Bundesländern und Orten nicht einmal geklärt, was mit den Kindern von Alleinerziehenden passiert, wenn die Mutter/der Vater wegen Corona ins Krankenhaus muss (positives Gegenbeispiel: Bremen). Das Kind ist dann sehr wahrscheinlich auch schon infiziert, und es muss sich irgendjemand bereit erklären, dieses infizierte und ansteckende Kind zu versorgen. Wer soll das machen, wo die Großeltern als Risikogruppe ausfallen? Und wer setzt sich selbst dem Risiko aus, zu erkranken, um ein fremdes Kind zu betreuen?
Das aber ist das vergleichsweise immer noch kleinere Problem gegenüber der Frage, was passiert, wenn der alleinerziehende Elternteil stirbt. Es ist nämlich so, dass bei gemeinsamem Sorgerecht, das 90% der ehemals verheirateten Eltern in Deutschland haben, es keine Pflicht gibt, dass der nicht betreuende Elternteil sein Kind aufnimmt. Meine Tochter zumindest würde das auch gar nicht wollen. Also käme sie in eine Pflegefamilie oder in ein Kinderheim, denn ihre große Schwester (19) wäre ganz sicher überfordert damit sich um ihre kleine autistische Schwester zu kümmern, auch wenn sie in große Gewissensnöte käme, falls ich sterbe, und zumindest noch einmal darüber nachdenken würde, ob sie sich das nicht doch zutraut, was ich aber für keine gute Idee halten würde.
Die Rechtslage: Bei gemeinsamem Sorgerecht kann eine Sorgerechtsverfügung unwirksam sein
Rein rechtlich entscheidet das Familiengericht gemeinsam mit dem Jugendamt, was mit den Kindern passiert, falls ich versterbe und niemanden in einer Sorgerechtsverfügung eingesetzt habe, der/die sich um meine Kinder kümmern soll. Zu allererst würde der Vater der Kinder gefragt, ob er sie bei sich aufnimmt, was aber für ihn rein optional ist – müssen muss er wie gesagt nix. Und egal, was ich verfüge, falls der andere Elternteil bei gemeinsamem Sorgerecht es sich doch anders überlegt und die Kinder aufnehmen will, dann wird seinem Willen im Regelfall stattgegeben, selbst wenn die Kinder ihren Vater eigentlich gar nicht mehr kennen. (Bei alleinigem Sorgerecht sieht das anders aus, da kann man mit einer Sorgerechtsvollmacht tatsächlich Fakten schaffen.)
Eine autistische 11-Jährige mit Pflegegrad 3, deren Beschulbarkeit auf der Kippe steht, und die diverse Schwierigkeiten mitbringt, ist nicht gerade ganz oben auf der Liste beliebter Kinder von Pflegefamilien, und so bliebe wohl nur ein Kinderheim, also eine spezielle stationäre Jugendhilfeeinrichtung für autistische Kinder als Alternative für meine Jüngste. Der Sohn (14) würde wahrscheinlich in einer Pflegefamilie unterkommen, oder im betreuten Wohnen, je nachdem, was gerade verfügbar ist. Die Geschwister würden getrennt werden, denn aus meiner Familie kann niemand meine Kinder aufnehmen und versorgen. Das wären echt bittere Aussichten.
Der goldene Mittelweg: Die Wahrheit sagen, ohne das Kind zu verängstigen
Deswegen darf ich auf keinen Fall krank werden, das ist soweit nichts Neues, aber jetzt eben noch weniger, weil Corona so gefährlich ist. Immerhin bin ich über 50 und gehöre auch durch die Autoimmunerkrankung der Risikogruppe an, bin also doppelt gefährdet. Und so habe ich das meiner Jüngsten auch erklärt.
Sie war zufrieden damit, und auch nicht verängstigt – ich frage mich gerade aber schon, wie das all die anderen alleinerziehenden Mütter und die wenigen alleinerziehenden Väter machen. Die knallharte Logik, mit der ich das meinem autistischen Kind erkläre, würde bei einem neurotypischen Kind wahrscheinlich massive Ängste auslösen. Wie kann man das schönfärben und optimistisch darstellen, ohne zu lügen? Das geht doch eigentlich nur durch Ausweichmanöver à la „Das wird nicht passieren“ oder „Darüber denken wir nach, wenn es passiert“. Wie macht Ihr das? Ist das bei euch Thema?