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UN Sonderberichterstatterin warnt vor Selbstbestimmungsgesetz

Selbstbestimmungsgesetz und Gewaltschutz passen nicht zusammen und können zu Retraumatisierung, Gefährdung und Exklusion von Frauen führen – so meldet sich die UN Sonderberichterstatterin Reem Alsalem mit einem offenen Brief an die Schottische Regierung zu Wort. Das sollte uns auch in Deutschland zu denken geben.

Reem Alsalem ist nicht irgendwer. Sie ist seit Juli 2021 die UN Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Kinder, und in dieser Funktion hat sie am 18.11.2022 das Oberhaupt der schottischen Regierung angeschrieben, Nicola Sturgeon. In Schottland ist ein Selbstbestimmungsgesetz geplant, das in sehr ähnlicher Form auch in Deutschland bereits 2023 kommen soll – die Eckpunkte dafür hat die Bundesregierung bereits vorgestellt, und sowohl Familien- als auch Justizministerium arbeiten an einer möglichst raschen Umsetzung.

Vorgestern meldete Alsalem sich auf Twitter zu Wort und verlinkte ihren 9-seitigen Brief, in dem sie vor einer Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes, das Transpersonen einen einfachen Wechsel des offiziellen Geschlechts via Sprechakt möglich machen soll, da sie als UN Sonderberichterstatterin gegen Gewalt den Schutz von insbesondere traumatisierten Frauen und Kindern bedroht sieht.

Was ist das Selbstbestimmungsgesetz und warum kann es ein Problem für Frauen werden?

Für alle, die nicht so tief im Thema drin sind: mit dem Selbstbestimmungsgesetz, wie es z.B. in den Niederlanden, Schottland und Deutschland geplant ist, kann zukünftig jede Person ihr Geschlecht frei wählen und eine sogenannte „Personenstandsänderung“ vornehmen lassen, völlig unabhängig von körperlichen Merkmalen. Ohne jegliches Gutachten, ohne Gespräche mit Fachleuten wie Therapeuten. Es kann also ein Mann mit Bart und Penis sagen, er fühle sich als Frau, und wolle von nun an als solche angesprochen und vor dem Gesetz sowie von der Gesellschaft auch so behandelt werden. Darauf hat er dann einen Rechtsanspruch.

Das bringt vielfältige Implikationen mit sich, von denen ein Aspekt der Gewaltschutz ist, mit dem die Sonderberichterstatterin Alsalem sich von Berufs wegen beschäftigt. Da ihr Brief exakt das herausarbeitet, was einige Feministinnen in Deutschland seit Monaten sagen, und was speziell ehemalig von Gewalt betroffene Frauen anmahnen, nehme ich mir zum Tag gegen Gewalt an Frauen die Zeit, die wichtigsten Punkte aus Reem Alsalems Brief zu übersetzen.

Reem Alsalems Brief zum Selbstbestimmungsgesetz in Auszügen

Nachdem Alsalem eingangs klargestellt hat, wie sehr ihr der Gewaltschutz von Transpersonen und nicht genderkonformen Frauen am Herzen liegt, und dass natürlich diese Personengruppen Schutzräume und Hilfsangebote brauchen, schreibt sie:

„Ich teile jedoch die Sorge, dass das Gesetzesvorhaben das Potenzial hat, es gewalttätigen Männern, die sich als Männer identifizieren, zu ermöglichen, durch den Prozess einer offiziellen Personenstandsänderung auch die Rechte, die damit einhergehen, zu missbrauchen. Dies stellt ein mögliches Risiko für die Sicherheit aller Frauen in ihrer Diversität dar (das betrifft weiblich geborene Frauen, Transfrauen, und nicht genderkonforme Frauen).“ (S.1)

Alsalem bemängelt, dass die Schottische Regierung die Rechtsfolgen des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes und die Folgen auf die Menschenrechte von Frauen und Kindern nicht berücksichtigt hat, obwohl dies laut UK Women and Equalities Committee Report von 2021 anlässlich der Reform des Selbstbestimmungsgesetzes unabdingbar wäre.

Schlupflöcher für männliche Straftäter und fehlender Opferschutz

„Der obige Report empfiehlt, dass solide Richtlinien entwickelt werden sollten, wie ein Selbstbestimmungsgesetz in der Praxis funktionieren soll, insbesondere am Beispiel von männlichen Gefängnisinsassen, die Sexualstraftaten oder häusliche Gewalt begangen haben, die sich als Frau identifizieren, und die nicht in Frauengefängnisse verlegt werden sollten.“ (S. 2)

„Die aktuellen Bestrebungen, die existierende Gesetzgebung … zu reformieren, berücksichtigt die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Kindern in all ihrer Diversität nur unzureichend, insbesondere die von denjenigen, die dem Risiko männlicher Gewalt ausgesetzt sind und jenen, die männliche Gewalt überlebt haben; und die Reform sieht überhaupt keine Sicherungsmechanismen vor, um dafür zu sorgen, dass sie nicht durch Sexualstraftäter und andere Gewalttäter missbraucht werden kann. Diese [Bestrebungen] bringen den Zugang zu reinen Frauenschutzräumen und zu FLINTA Schutzräumen mit sich. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Beharren auf einem Risikomanagement und Sicherheit sich nicht aus dem Glauben speist, dass Transpersonen selbst eine Gefahr darstellen. [Redaktionelle Fettung von Christine Finke]. Das Risiko basiert auf empirischen Beweisen, dass die Mehrheit der Sexualstraftäter männlich ist und dass ausdauernde Sexualstraftäter keinen Aufwand scheuen, um Zugriff auf jene zu bekommen, die sie missbrauchen wollen.

[…] Die Sicherheit und der Schutz aller Menschen muss vom Gesetz gewährleistet werden. Dies beinhaltet Schutzvorkehrungen gegen erneute Opferwerdung, Traumatisierung und andere Arten von Gewalt. Der UN Sonderberichterstatter für Folter betont, dass sich bei Opfern von Vergewaltigungen und anderer sexualisierter Gewalt zusätzlich zu der erlebten körperlichen Gewalt der seelische Schmerz und das Leiden der Opfer durch auf die Tat folgende Stigmatisierung und Isolation verschlimmern und das Leid verlängern.“ (S. 3f.)

Trauma: Warum die Anwesenheit von Transfrauen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen unerwünscht sein kann

Dass es keine Transfeindlichkeit ist, reine Frauenschutzräume zu fordern, stellt die UN Berichterstatterin kurz darauf klar heraus: „Biologisches Geschlecht ist [laut Kommentierung des §240 des Equality Act 2010] nicht dasselbe wie Geschlechtsidentität, wie an diesem Beispiel ausgeführt wird, bei dem es um das Angebot reiner Frauenräume geht: Psychologische Beratung für eine Gruppe wird für weibliche Opfer von Sexualstraftaten angeboten. Die Organisatoren gestatten transsexuellen Menschen keinen Zutritt, weil sie zu dem Urteil gekommen sind, dass die Klientinnen, die die Gruppensitzungen besuchen, dies nicht mehr täten, wenn eine ehemals männliche Transfrau auch anwesend wäre. Dies wäre rechtmäßig.“ (S. 4)

Dazu erschien auch im April 2022 ein Paper der Equality und Human Rights Commission (siehe FN 8 des Briefs von Alsalem), „in dem konstatiert wird, unter welchen Bedingungen es zulässig ist, reine Frauenschutzräume einzurichten. Die Richtlinie besagt, dass das Bedürfnis von Frauen nach Privatsphäre, Würde und Sicherheit reine Frauenschutzräume rechtfertigen kann, und somit männlich geborene Personen ausgeschlossen werden können, unabhängig davon, wie sie sich identifizieren.“ (S. 5)

Auch die Verhinderung von Traumatisierung und Retraumatisierung stellen laut diesem Paper der Kommission legitime Gründe dar, auf reinen Frauenräumen zu bestehen. Es handelt sich dabei nicht um Transfeindlichkeit, wie von Aktivisten teilweise propagiert wird.

Dem Heilungsprozess traumatisierter Frauen muss Raum und Zeit gegeben werden

„Weitere Traumatisierungen von Gewaltopfern ist insofern ein legitimer Grund für reine Frauenräume. Retraumatisierung und Reviktimisierung von Frauen… durch patriarchale männliche Gewalt ist unabdingbar für den Heilungsprozess von Überlebenden und Opfern und für ihr Weiterleben“ […] Leider bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass es nicht gelingt, den weiblichen Überlebenden von Männergewalt reine Frauenräume zur Verfügung zu stellen. Diese Frauen fühlen sich aufgrund des Erlebten nicht in der Lage, transinklusive Räume und Beratungsstellen aufzusuchen, was zu Selbstausgrenzung von unterstützenden Maßnahmen führt.“ (S. 5)

Ferner ergänzt die UN Sonderberichterstatterin: „Es gibt auch Bedenken bezüglich Selbstausgrenzung aufgrund von kulturellen und religiösen Faktoren“ (S. 6)

„Frauen und Kinder sind Opfer von Gewalt, egal, wie sie sich identifizieren oder welche sexuelle Orientierung sie haben“, schließt Alsalem, und mahnt, dass es sich bei beiden um besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen handelt. (S. 8) Sie erinnert daran, dass sich Sexualstraftäter mit dem geplanten Gesetz eine neue Identität zulegen können, was für den Gewaltschutz problematisch sein wird.

Das geplante Selbstbestimmungsgesetz geht alle an

„Dies sind komplexe Fragen mit sehr praktischen und realen Konsequenzen für mehr als eine schutzbedürftige Gruppe, es gibt Schnittpunkte mit anderen schutzbedürftigen Gruppen und Schnittpunkte mit der gesamten Gesellschaft. Deswegen appelliere ich dringend an die Schottische Regierung, dem Gesetzgebungsprozess genügend Zeit zu geben, um eine zuverlässige Rechtsfolgenabschätzung aller Konsequenzen der geplanten Änderung vornehmen zu können, und die Kompatibilität mit bestehender Gesetzgebung … zu prüfen.“ (S. 7)

„Ich bitte die Regierung dringend darum, alle Betroffenengruppen, die ihre Ansichten und Bedenken gegenüber diesem Gesetz vorbringen wollen. sorgfältig anzuhören. […] Während ich der Regierung dafür lobe, die Stimmen von Transfrauen anzuhören, inklusive der Organisationen, durch die sie repräsentiert werden, so bin ich doch besorgt, dass bei den Anhörungen für diese Gesetzesänderung andere Gruppen von Frauen nicht genügend gehört wurden, vor allem die weiblichen Opfer von Gewalt. […] Wenn man die Bedürfnisse von als Frau geborenen Überlebenden von Gewalt als unlauter darstellt und ihr Bedürfnis nach reinen Frauenschutzräumen und Beratung infrage stellt, dann ist dies nicht opferzentriert und ignoriert die unfreiwillige Traumatisierung des Opfers, seine Anliegen und seine Würde.“ (S. 9)

Alles, was Reem Alsalem schreibt, kann man im Grunde 1:1 auch auf Deutschland übertragen. Und ich hoffe, unsere Regierung berücksichtigt diese Einwände. Denn der Schutz von traumatisierten Frauen und Mädchen sowie die Verhinderung weiterer Traumatisierungen ist ein wichtiges Menschenrecht.

P.S. Bei Ungenauigkeiten/Fehlern in der Übersetzung, die euch auffallen, bitte ich um Nachricht, damit ich ggfs. Korrekturen vornehmen kann.

Mein Standpunkt zum Thema Selbstbestimmungsgesetz hier im Blog: „Kritik am Selbstbestimmungsgesetz – mein Brief an Lisa Paus.“