„Die Wichte ist im Gegensatz zur Dichte ortsabhängig“, erklärt Wikipedia, „während bei der Dichte die Masse im Verhältnis zum Volumen steht“.
Wenn ich, wie vergangenes Wochenende, den Ort besuche, in dem ich aufgewachsen bin, und in dem meine Eltern seit 40 Jahren in demselben Reihenhaus wohnen, und die Menschen sehe, die einfach in diesem Ort geblieben sind, dann wundere ich mich, wo diese Leute all ihre Erinnerungen hinpacken. Ob sie sich überlagern und so einfach mehr vergesssen wird? Im Vergessen war ich noch nie so gut, das klappt erst jetzt, mit Jahrzehnten Abstands. Eine zu hohe Erinnerungsdichte, und ortsabhängig auch noch mit hoher Wichte ausgestattet, ist anstrengend.
Diese vielen Erinnerungen, die in meiner Heimat Kirchzarten im Dreisamtal samt Freiburg an jeder Straßenecke lauern, seien es angenehme oder unangenehme, verleihen mir bei Heimatbesuchen ein ganz sonderbares Grundgefühl. Ich muss mich zusammenreißen, mit dem Fokus in der Gegenwart zu bleiben bei diesen Ausflügen, es ist ein permanenter Wechsel zwischen Gedankenebenen, was ich so in meiner neuen Heimat, Konstanz, nicht habe – und auch in den anderen Städten, in denen ich gewohnt habe, in keinster Weise vermisst habe, im Gegenteil.

Trotzdem fahre ich gerne hin, in meine Heimat. Ich staune, dass der Bürgermeister des Orts vom Alter her der jüngere Bruder einer Freundin sein könnte, ich liebe die Landschaft, mag den weichen Dreisamtäler Dialekt des Alemannischen, und find’s wunderschön, mit den Kindern Zeit bei meiner Familie zu verbringen. Dort wohnen könnte ich aber nicht – die 112 Kilometer Abstand über den Schwarzwald sind genau richtig für mich.
Wir waren Zugereiste damals, mit deutlich hörbarem norddeutschen Akzent, und lange Zeit sprachen meine Eltern davon, vielleicht wieder zurück nach Kiel zu gehen, woher sie stammen. Von daher habe ich mich vielleicht immer etwas auf dem Sprung und ein bisschen anders gefühlt als die Einheimischen. Ein Gefühl, das ich weitergetragen habe und das so von Ort zu Ort stabil bleibt, und womöglich meine Unsesshaftigkeit und Reiselust begründet.
Wie ich darauf komme? Gestern haben wir anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Höllentalbahn eine Modellbau-Ausstellung besucht und eine historische Dampflok samt Personenwaggons besichtigt.
Die Modellbaueisenbahn zeigte den Bahnhof Kirchzarten samt Umgebung aus den 70er Jahren, also meiner Jugend. Mit nachgestellten Straßenszenen, den umgebenden Häusern, alles sehr detailliert und liebevoll gemacht. Eine kleine Zeitreise, die wunderschön war. Und ein bisschen dachte ich, dass es schade ist, dass meine Heimat offenbar das Kirchzarten der 70er und 80er Jahre ist, das es nicht mehr gibt.
Heimat ist ein Ort, den es früher einmal gab. So wie für meine Kinder das Konstanz von heute ihre Heimat ist. Ob sie wohl hier bleiben, wenn sie erwachsen sind? Ob sie sich auf dem Sprung fühlen, weil ihre Mama manchmal überlegt, wie es wäre, wieder nach Freiburg oder gar nach Berlin zu ziehen?
Linktipp:
Artikel in der Badischen Zeitung vom 21.06.2012 Die Welt der Eisenbahn en miniature
Fotostrecke 125 Jahre Höllentalbahn in der Badischen Zeitung vom 24.06.2012
Liebe Christine, ich kann gut nachvollziehen, was du meinst. Mich überkommt nach jedem Besuch bei den Eltern trotz aller nostalgischen Gefühle auch die Erleichterung, hier nicht leben zu müssen (obwohl die Kinder traurig sind, dass ihre Großeltern so weit weg wohnen). Trotzdem fühle ich mich auch an meinem derzeitigen Wohnort nicht wirklich zu Hause, oder sind fünf Jahre in einem Ort dafür einfach zu wenig? Oder vielleicht gibt es Menschen, die sich nirgends zu Hause fühlen (wollen)? DWD und ich wälzen manchmal schon Pläne, wo wir hinziehen könnten, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Die Theorie, dass Kinder von… Weiterlesen »
Liebe DWM, und wenn die Eltern gerne woanders gewohnt hätten, unterschwellig? Die Familie väterlicherseits bei mir sind Seefahrer, da liegt das Weltenbummeln in den Genen :). Ich glaube, es ist nicht unbedingt die Zeit, die vergangen sein muss, um sich heimisch zu fühlen. Ich habe 5 Jahre in Berlin gelebt, das vom ersten Tag an mein Zuhause war, ein sonderbares Gefühl, ich kam dort an, wegen eines Jobs, war vorher nie dort gewesen, und war mir sicher, anzukommen, im übertragenen Sinne. Hier in Konstanz sind wir schon 10 Jahre, es kommt mir aber kürzer vor. Eher wie 3. Und ob… Weiterlesen »
Ich unterscheide inzwischen nach langen Jahren des Wegzuges zwischen „zuhause“ und „daheim“. „Daheim“ ist früher, befrachtet mit Erinnerungen, Schule, Klassenkameraden, Dialekten. Die Erinnerungen sind schön, aber wenn man sich ansieht, wie sich das „Daheim“ im Laufe vieler Jahre verändert … da bin ich dann sehr froh, ein neues Zuhause gefunden zu haben, denn „daheim“ ist für mich zwar immer noch „daheim“, „daheim“ fühle ich mich dort aber schon lange nicht mehr.
Liebe Susi,
lass uns einen Antrag beim Duden stellen, deinen Gebrauch von „zuhause“ und „daheim“ einzuführen! Finde ich sehr sinnig! Und „befrachtet“, das trifft es perfekt. Schwer beladen, wie ein Kahn, so komme ich mir mit meinen Erinnerungen gelegentlich vor, wenn ich in der alten Heimat weile.
[…] Linktipp innerhalb des Blogs: Heimat = Dichte + Wichte […]