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Kinderreichtum = Kinderarmut. Von Zeit und Geld

Krass, wie viel Zeit ich mal hatte. Jeden Tag Zeit, nur für mich und die Arbeit. Und meine Freunde, meine Hobbys, Zeit auf Flohmärkte zu gehen, Zeit, auf einer Wiese zu liegen und in den Himmel zu schauen.

Und wie viel Geld ich hatte, jeden Monat! Gut 50.000 DM Jahreseinkommen für eine 32-Jährige ohne Kinder, da gingen zwar viele Steuern und Sozialabgaben ab, aber es blieb so viel übrig, dass ich jeden Monat Geld beiseite legen konnte, um zu sparen. Ich konnte Urlaubsreisen buchen, Bundesschatzbriefe kaufen, bequem die Miete meiner Wohnung in Berlin zahlen, und immer noch war genügend Geld da. Ich lud Freunde zum Essen ins Restaurant ein und mietete zu meiner Promotionsfeier eine ganze Kneipe im Weinbergsweg, all inclusive.

Irre viel Geld. 2.300 € jeden Monat nur für mich alleine, das ist ziemlich genau die Summe, die ich jetzt für die drei Kinder und mich gemeinsam zur Verfügung habe. Ich bekam Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld, hatte über 30 Tage bezahlten Urlaub, tariflich festgelegt, und wenn ich krank war, konnte ich mich ins Bett legen und krank sein. Geld bekam ich natürlich trotzdem. Dabei war das nur eine 2/3 BAT Stelle, damals an der Uni. Die Stelle war auf 5 Jahre befristet, da sagen mir diejenigen, die heute an der Uni auf befristeten Stellen arbeiten, das sei ja irre lang, sowas gebe es gar nicht mehr.

Morgens stand ich gegen halb 9 auf, ging ohne Frühstück, aber geduscht aus dem Haus, und drehte um 10 Uhr mit meinem großen Schlüssel die meterhohe Holztüre zu meinem Büro im Hauptgebäude der Humboldt-Uni um. Ein Büro, das größer war als mein heutiges Wohnzimmer samt Küche. Ich schaute direkt auf „Unter den Linden“ und die Bücherstände vor dem Haupteingang. Die Aussichten waren gut.

Nachmittags kehrte ich gegen 17 Uhr zurück nach Hause, ging dann irgendwann zum Sport im Fit am Rosenthaler Platz, und danach mit Freunden was trinken oder ins Kino. Einen Abend pro Woche ging ich nicht aus, da blieb ich Zuhause, das hatte ich mir vorgenommen. Irre, wie viel ich ausgehen konnte!

Meine Waschmaschine musste ich nur alle 3 Wochen anstellen, denn ich hatte nicht viel zu waschen – Unterwäsche, Handtücher vom Sport, die anderen Sachen wurden ja nicht dreckig. Heute wasche ich fast jeden Tag.

Einkaufen war einfach, ich nahm einen kleinen Korb in die Hand im Bolle, der danach Extra hieß und heute ein Rewe ist, in der Invalidenstraße, in den ich eine Milch für 3 Tage legte, etwas Brot, Käse, Oliven, Gummibärchen, Joghurt und eine Dose Katzenfutter für die Katze, wenn Besuch kam, auch eine Flasche Wein. Heute brauche ich ohne Auto gar nicht mehr loszugehen, weil der Kühlschrank alle 2 Tage leer ist und die pubertierenden Kinder richtig viel Hunger haben.

Später, nach dem ersten Kind, hatte ich noch mehr Geld. Ein Einstiegsgehalt von 6.500 DM brutto in einer Hamburger Redaktion – aber da musste ich schon teilen, das musste für drei reichen: den Mann, der auf das Baby aufpasste, weil ich den besseren Job hatte, das Baby und mich. Zeit hatte ich da auch keine mehr, denn ich arbeitete Vollzeit, schon 3 Monate nach der Geburt. Und Hobbys? Freunde? Nope.

Noch später hatte ich noch weniger Zeit, denn aus dem einen Kind waren drei geworden, und mein Beruf führte mich als Grenzgängerin in die Schweiz. Pendelzeit 2 h pro Strecke von Konstanz aus, Gehalt wegen des Wechselkurses erst quasi Null, weil ich eine Kinderfrau in Vollzeit einstellen musste, später mit geändertem Wechselkurs ein fürstliches Gehalt, das Putzfrau, Au-Pair und Miete bequem abdeckte.

Aber dann zerbrach zuerst die Ehe, dann brach das Gehalt weg, und alles wurde noch knapper, besonders die Zeit, weil ich mich selbstständig machen musste mangels Alternativen. Nun habe ich weder Geld noch kann ich krank werden, von Urlaub können wir nur träumen, und ich teile mir ein Zimmer mit meiner jüngsten Tochter. Die Kinder sagen, sie würden so gerne mal wieder an die Ostsee fahren. Und ich sage, später vielleicht. Dieses Jahr nicht.

Irgendwann werden die Kinder groß sein. Dann werde ich auf einmal unglaublich viel Zeit haben. Geld wahrscheinlich nicht, aber Zeit wäre mir eh wichtiger. Und nochmal gemeinsam in den Urlaub fahren, bevor alle groß sind, das wäre schön.

Wir waren schon viel zu lange nicht mehr am Meer. Und ich hab schon viel zu lange zu wenig Zeit gehabt. Das macht mich traurig, weil ich weiß, dass die Zeit bald um ist, jedenfalls die gemeinsame mit den Kindern. Ich hätte ihnen gerne eine schönere Kindheit ermöglicht. Es war nicht drin.