Es begab sich an einem Samstag in einer wohlhabenden Stadt in Süddeutschland, dass eine 17-Jährige mit ihrer besten Freundin bummeln ging.
Es war noch angenehm warm, obwohl es schon Ende Oktober war, und die beiden Mädchen schlenderten gutgelaunt mit ihren Einkaufstüten durch die Altstadt. Ihr Blick blieb an einer in der Fußgängerzone aufgestellten Tafel hängen, auf der „Was möchtest Du unbedingt tun, bevor du stirbst?“ stand, und sie verlangsamten ihre Schritte, um sich anzugucken, was andere Passanten vor ihnen dort auf die Tafel geschrieben hatten.
Wie sie da so standen, kam ein junger Mann, ein Student vielleicht, dachte sich die 17-Jährige, auf die beiden Freundinnen zu und sprach sie an. „Wir sind von Rotaract. Das ist eine von einem Rotarier Club geförderte, aber unabhängige Gemeinschaft junger Leute zwischen 18 und 32 Jahren, und wir helfen Menschen in Not“, erklärte er und überreichte der 17-Jährigen einen kleinen Flyer und ein Stückchen Schokolade. Da die 17-Jährige Not gut selbst kannte, nahm sie den Flyer entgegen und schaute den jungen Mann interessiert an.
„Und was machen Sie da so?“, fragte sie nach, denn man weiß ja nie, wie groß die nächste Not wird, und wann sie kommt. „Wir unterstützen zum Beispiel Familien, die nie in den Urlaub können“, führte der junge Mann aus, und das fand die 17-Jährige eine gute Sache, schließlich war ihre Mutter alleinerziehend, und sie hatte noch zwei jüngere Geschwister. In den gemeinsamen Urlaub waren sie seit vielen Jahren nicht mehr gefahren – zuletzt, als die Mutter noch eine feste Arbeit hatte, die sie aber vor über 5 Jahren verloren hatte. Seitdem arbeitete ihre Mutter als Freiberuflerin von Zuhause aus, und die Familie hatte lange Zeit nur Dank Wohngeld und einer Sozialwohnung über die Runden kommen können.
„Oh toll“, meinte die 17-Jährige, „Und wie kann man da mitmachen?“ „Komm einfach bei uns vorbei!“, freute sich der junge Mann. „Wir treffen uns jeden Mittwoch um 19:30 im Clubraum, Adresse steht im Flyer.“ Das Mädchen schaute in den Flyer, las „“Unvergessliche Partys und Galabälle“, „Segelturns“, „Skiwochenenden“ und „Wir helfen Menschen in Not“, und verstand plötzlich, dass derjenige, der sie angesprochen hatte, das nicht getan hatte, weil er ihr Hilfe angedeihen lassen wollte, sondern weil sie und ihre Freundin als potentielle Helfer mit wohlhabenden Eltern gesehen worden waren.
Und als sie so an sich und ihrer Freundin herunterblickte, wurde ihr auch klar, warum: Die Freundin aus gut situiertem Elternhaus trug, wie fast immer im Winter, ein Lacoste-Oberteil und die teuren Original-Ugg-Winterstiefel, und mit ihren Tüten sahen sie aus wie Kinder aus gutem Hause, die sich sozial einbringen könnten, um den Horizont zu erweitern.
Dass sich die 17-Jährige gerade zum ersten Mal seit einigen Jahren für ihr Zimmer neue Kissen und eine Kuscheldecke gekauft hatte, und dass ihr die 60 €, die sie dafür ausgegeben hatte, wie geradezu waghalsig viel Geld vorkamen, konnte dieser junge Mann ja nicht wissen. Da sie all dies aber weder erklären konnte noch wollte, sagte sie nur noch „Achso, äh, danke.“ Dann trat sie an die Wand und schrieb darauf „Kunst machen“, obwohl sie wusste, dass man damit wahrscheinlich nicht reich wird, aber das war seit frühester Kindheit ihr Wunsch und ihre größte Gabe.
Den Flyer und die Schokolade nahm sie mit, um Zuhause ihrer Mutter von dieser Begebenheit zu erzählen. Es war zartbitter.