Im Silvestergottesdienst eines süddeutschen Ortes hörten die Besucher den Pfarrer folgendes von der Kanzel predigen:
„Die Wahrheit macht frei. Wirklich frei. Ich hab in meiner Vorbereitung von einer Frau gelesen. Mitte 40 etwa, promovierte Journalistin, Mutter von 3 Kindern. Und diese Frau hat auf eine ganz tolle Weise erlebt, was dies konkret heißen kann – dass Wahrheit frei macht. Sie hat nämlich das „Wahrheits-Experiment“ gemacht – und hat darüber folgendes berichtet. Sie schreibt:
Dass die Wahrheit frei macht – das stimmt zu hundert Prozent. Wirklich frei wurde ich nämlich damals, als ich konsequent begann, das Lügen einzustellen… [es folgt mein Text vom 23.12.2012.]
Soweit diese Frau, die das „Wahrheits-Experiment“ ausprobiert hat. Sie durfte ganz persönlich erleben, dass die Wahrheit frei macht. Hab so bei mir gedacht: Wäre dies nicht auch ein guter Vorsatz für 2013? Einfach mal probieren, was passiert, wenn auch wir mit der Wahrheit leben…“
Davon hätte ich nie erfahren, hätte der Pfarrer mir nicht gemailt und mir seine Predigt als pdf geschickt. In meiner Mailbox las ich:
Liebe Frau Finke,
… darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist David D. und ich bin zurzeit Pfarrer zur Anstellung im Kirchenbezirk XY. An Silvester hatte ich nun Gottesdienst zu halten – und der vorgegebene Predigttext war Joh 8,31-36.
In meiner Vorbereitung bin ich dann auf Ihren Blog-Eintrag vom 23. Dezember gestoßen. Und da ich Ihren Bericht so eindrücklich fand, habe ich ihn kurzerhand als Beispiel in meine Predigt eingebaut.
Mit dieser Mail möchte ich mich nun bei Ihnen für Ihren interessanten Erfahrungsbericht bedanken – und schicke Ihnen meine Predigt mit.
Viele Grüße und einen guten Start ins neue Jahr wünscht Ihnen
David D.
Wenn das nicht wahrhaft crossmedial ist – ein Blogbeitrag aus dem stillen Kämmerlein wird zur mündlich vorgetragenen Predigt in der Kirche! Ich habe mich gefreut und gefragt, wie die Zuhörer das Beispiel aus dem Blog aufnahmen, und Herr D. antwortete mir, ach, das sei so ungewöhnlich nicht, er recherchiere häufig in Blogs. Das war eine Vorgehensweise, die mir neu schien, die Pfarrer D. aber selbstverständlich fand.
Blogs sind also keine Mauerblümchen mehr, und dass auch Journalisten sich ihrer häufig als Quelle bedienen, zeigt eine neue Studie von Jost Broichmann auf corporate media blogger, der 478 Teilnehmer befragte, wie sie als Journalisten Blogs nutzen.
Private Blogs werden mit 71% erstaunlich gut frequentiert, allerdings erstaunt ebenso die hohe Anzahl von Journalisten, die NIE in Blogs recherchieren, nämlich 33%. Da frage ich mich, ob es am Dünkel liegt oder einfach an Alterssturheit – es kann ja sein, dass Journalisten über 50 sich mit dem Medium Internet sich nie richtig angefreundet haben? Nur 15% aller Journalisten lesen regelmäßig Blogs, weitere 13,4% haben Blogs abonniert, macht also fast 29% Journalisten, die Blogs ernst genug nehmen, um sie anzugucken. Mag sein, dass sich das in etwa mit der Zahl der Gesamtinernetnutzer in Deutschland deckt, die Blogs lesen – das rate ich jetzt aber. Falls jemand dazu Studien kennt, immer her damit :).
Ich sehe solche Entwicklungen immer noch ein wenig mit dem Auge der Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Forscherin, die ich an der Uni war. Betrachtet man den Wechsel vom rein schriftlichen Blog in die Predigt oder in ein journalistisches Produkt (das kann ja auch TV oder Radio sein), dann gilt für das englische Mittelalter wie für Mitteleuropa Anfang des 21. Jahrhunderts, dass gewisse Inhalte relativ problemlos Medienwechsel vollziehen können, ohne an Funktion zu verlieren. Das gilt im Speziellen für Blogs, die sind nämlich konzeptionell eher mündlich, also von Sprachmustern geprägt, die für die gesprochene Sprache typisch sind. Durch so einen Medienwechsel können sogar neue Aspekte des Textes zum Tragen kommen, die in der ursprünglichen Form gar nicht durchschimmern oder gar wirken konnten. Das ist eine Erweiterung dessen, was ich als Bloggerin „hergestellt“ habe – tatsächlich würde ich sogar sagen, „fabriziere“. Und ich sehe darin eine Bereicherung, konkreter eine Anreicherung, durch die Fremdnutzung.
Apropos Medien- und Kontextwechsel: ich hätte auch Lust, mal eine Blog-Installation (ein mehrdimensionales Kunstwerk) zu machen – denn Blogbeiträge sollte man nicht nur einfach vorlesen, sondern samt Verlinkungen inszenieren, als auf mehreren Ebenen stattfindendes Gedankenkonvolut, das würde mir gefallen. Bilder müssten projiziert werden, und und im Idealfall mehrere Blogger vielstimmig vortragen. Aber nun – ich bin ja keine Dramaturgin, ich habe nur eine Vision.
Blogs gewinnen an gesellschaftlichem Ansehen, wie man auch an Aktionen wie den Brigitte Mom Blogs sehen kann, und irgendwann wird die breite Mitte der Gesellschaft sich unter einer Bloggerin nicht mehr eine hässliche, pickelige einsame Frau vorstellen. Ich arbeite daran.
Quelle der Grafik:
„Zwei von drei Journalisten nutzen Blogs zur Recherche.“ Corporate Media Blog von Jost Broichmann
Linktipp innerhalb des Blogs: