„Die Wahrheit wird Euch frei machen.“ So steht es in goldenen Lettern an den ehrwürdigen Hallen der Universität Freiburg, und ursprünglich im Johannes Evangelium (8,32).
Und auch wenn Johannes das anders gemeint hat, stimmt es doch zu 100 Prozent. Die Wahrheit, das kann wie an der Universität das reine Wissen sein, und lange habe ich mein Heil dort gesucht. Wirklich frei wurde ich aber erst, als ich konsequent begann, das Lügen einzustellen.
Damit meine ich, dass ich tatsächlich die Wahrheit sage, auch in den kleinen Dingen des Alltags. Und das, ohne ein Autist zu sein – es war eine bewusste Willensanstrengung, anfangs ein Experiment, getragen von dem Wunsch, das Leben zu vereinfachen, und einfach so sein zu dürfen, wie ich bin, ohne mich in diversen fabrizierten Realitäten zu verlieren und zu verstricken. Als besonders tückisch stellten sich die „es hätte genausogut so sein können“-Lügen heraus, die mir mit Ende 20 so leicht über die Lippen kamen, dass mir grauste, und sie waren auch der Grund, warum ich mir sagte, dass das aufhören müsse.

Seit etwa 15 Jahren sage ich also die Wahrheit. Auch im Berufsleben, und sogar da kam es meist gut an (natürlich macht insbesondere im Berufsleben der Ton die Musik, ich bin ja nicht undiplomatisch oder fies). Die einzige Ausnahme sind der Weihnachtsmann und der Osterhase, da mache ich Konzessionen als Mutter. Ansonsten erleben mich meine Kinder als sehr ehrlich, und das tut ihnen nicht weh – sie sind selbst altersgerecht in der Lage zu lügen, zu unterscheiden, ob sie soziale „White Lies“ einsetzen wollen (was ich nicht tue), und normal zu interagieren.
Es spart so unglaublich viel Energie und ist befreiend, schlichtweg bei der Wahrheit zu bleiben. Wenn Ihr es ausprobieren wollt, hier meine Tipps für Einsteiger:
- Zuerst mit einer Handvoll vetrauten Menschen üben, die eingeweiht sind und nicht aus allen Wolken fallen
- Sich ständig hinterfragen (ja, das ist anstrengend), ob man wirklich die Wahrheit gesagt hat
- Auf die Frage „Wie geht’s?“, ohne gleich Weltuntergangsstimmung zu verbreiten, einfach mit „Heute nicht so gut“ sagen und sehen, dass gar nichts Schlimmes passiert
- Wenn Bekannte/Freunde sich verabreden wollen, ruhig sagen „Ich habe dazu keine Lust, sei bitte nicht böse“, oder „Ich möchte lieber Zuhause bleiben“
- Eine gute Übung für Einsteiger ist auch, einfach nicht ans Telefon zu gehen, wenn es klingelt. Es gibt kein Gesetz, das sagt, man müsse jederzeit erreichbar sein (Achtung, Falle: hinterher keine Ausflüchte à la „Ich hab’s nicht gehört/war im Keller/auf dem WC“!)
- Nicht feindlich rüberkommen, sondern um Verständnis werben – durch Tonfall und gegebenenfalls eine Erklärung für die ausgesprochene Wahrheit
Die Angewohnheit, die Wahrheit zu sagen, geht einem bald in Fleisch und Blut über. Es macht glücklich und stößt in der Praxis kaum jemanden vor den Kopf – ich habe jedenfalls einst sehr viel schneller und verheerender Menschen mit Lügen verletzt, die aufflogen, als ich das jemals mit einer Wahrheit getan habe. Das bedeutet übrigens nicht, dass ich meinen Mitmenschen unaufgefordert Wahrheiten entgegenschleudere, wie ich sie für mich wahrnehme, denn das wäre missionierend und übergriffig, und ist mir zuwider.
Allerdings habe ich schon den Wunsch, die Welt ein bisschen zu verändern, und sei es „nur“ in den gesellschaftlichen Bereichen, die mich und meine Lebenssituation als Alleinerziehende betreffen. Es gibt Belange, für die ich mich einsetze, und bei denen ich auch in Kauf nehme, mit den von mir transportieren „Wahrheiten“, die natürlich Früchte meines Blickwinkels sind, anzuecken.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ von Karl Marx liest der Besucher des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität zu Berlin beim Besteigen des Treppenaufganges. Platt übersetzt bedeutet das für mich, dass nicht die hehren Worte und Gedanken zählen, sondern Taten. Also krempele ich die Ärmel hoch und tue etwas, indem ich Anstöße zu gesellschaftlichen Debatten gebe. Das hoffe ich zumindest zu tun.

Linktipps:
Ich finde das „Wahrheit sagen“ auch sehr übenswert. Und letztlich ist es sich selbst und anderen gegenüber fairer, z. B. einfach abzusagen, wenn einer danach ist, statt sich zur Verabredung mit halbem Herzen zu schleppen (und womöglich noch darüber zu jammern). Ich möchte andersrum ja auch nicht, dass jemand das mit mir macht. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Ehrlichkeit (gefällt mir fast besser als Wahrheit wegen der damit konnotierten Subjektivität – für mich zumindest), gut tut & frei macht. Auch wenn ich es nach wie vor nicht immer einfach finde und mir ab & zu selbst in den… Weiterlesen »
Hallo Cloudette – ja, und ganz ernsthaft meine ich, dass das Leben zu kurz und zu kostbar ist, um es mit Lügen zu verbringen. Denn die beeinträchtigen mich mehr als die anderen, denen sie gelten, wenn ich lüge. Ich find’s ineffektiv.
Ja, in der Tat. Liebs Grüßle, C.
Liebe C., ich weiß genau, was du meinst. Die Wahrheit macht aus unterschiedlichen Gründen frei. Erstens kann man nur mit jemandem verbunden sein, wenn man vollständig ehrlich ist. Unehrlichkeit verdreckt sozusagen die Aura, und zwar zuerst die eigene – ungefähr wie Rauchen. Ehrlichkeit macht einen klaren Blick und erfrischt die Atmosphäre – und die meisten Menschen sind entlastet und erleichtert, wenn jemand (endlich) ehrlich und authentisch ist, weil man unbewusst eben doch fühlt, ob jemand seine Wahrheit sagt oder nicht. Und zweitens spart Ehrlichkeit Energie. Es ist anstrengend, zu lügen, und zwar nicht nur wegen dem Aufwand, sich die Lügen… Weiterlesen »
Liebe Michaela, ich glaube, du überforderst meinen Intellekt :). Bonhoeffer habe ich mir zuletzt im Abi zugeführt, Religion war mein 4. Prüfungsfach, und soweit ich mich erinnere, hatte ich damals schon Verständnisschwierigkeiten… Fanatisch will ich nicht sein, missionierend auch nicht, zynisch bin ich oft. Ich glaube auch nicht, dass alle Menschen dazu gemacht sind, sich die Wahrheit zu sagen – womit ich mich nicht über irgendjemanden erheben will. Auf Tolle reagiere ich ein bisschen allergisch, den habe ich auf Rat zweier sehr guter Freundinnen gelesen und mich wirklich durchgequält, um am Ende zu sagen, dass ich mit seinen Gedanken nichts… Weiterlesen »
Liebe C., ich war ein paar Tage ohne Netz, deshalb konnte ich nicht antworten. Dass ich Bonhoeffer zitiert habe, liegt auch nur daran, dass mein Mann gerade ein Buch über ihn gelesen hat – (das ihm meine Schwiegermutter ausgeliehen hat). Dass du Tolle nicht verstehst, wundert mich, denn ich finde, er schreibt sehr einfach. Aber wenn du dich bis dahin noch nicht damit beschäftigt hast, ist es vielleicht noch zu weit weg für dich. :) Und wenn ich lese, dass du viele Jahre zu mitfühlend, liebend und verzeihend gewesen seiest und dass es in manchen Fällen besser sei, das radikal… Weiterlesen »
Liebe Michaela, den Alkoholiker konnte ich liebevoll in der Gosse landen lassen und liebevoll verabschieden, als er den Weg ins Grab gefunden hatte. Da folge ich dir. Was mein Begriff von Liebe ist, darüber denke ich noch nach, denn abgesehen von Liebe zu meinen Kindern und der Familie ist Liebe früher für mich vor allem Chemie gewesen, was sich als nicht ganz gesund herausgestellt hat. Was du meine „innere Quelle“ nennst, habe ich ganz sicher in der letzten, desaströsen Beziehung verloren – zum Glück nur befristet. Dass es so kam, und wie, und überhaupt, das kann ich hier nicht ausbreiten… Weiterlesen »
Hallo Christine, etwas verspätet, aber meine Gedanken brauchen manchmal länger und nun muss ich hier doch noch kurz meinen Kommentar abgeben. Grundsätzlich stimme ich dir zu, gerade meinen Kindern bringe ich bei, dass alles was ich sage, stimmt. Punkt! Und das gleiche erwarte ich von ihnen. Aber im normalen Alltag fühle ich mich oft sehr enthüllt, ich sage nämlich nicht nur die Wahrheit, leider liegt mir auch das Herz auf der Zunge und so sind meine Aussagen oft ganz eng mit meinen Gefühlen verknüpft. Mir ist klar, dass das auch nicht sein muss, aber hier schaffe ich keine Grauabstufung. Ganz… Weiterlesen »
Liebe Tina, ich finde dich von Weitem betrachtet auch sympathisch mit dieser Einstellung :). Ganz oder gar nicht ist eine Sichtweise, die mir liegt. Und es muss ja auch jeder selbst entscheiden, wie er das mit der Wahrheit handhaben möchte, und sich damit wohlfühlen. Bei mir war das Problem, dass ich spürte, wie mir die Wahrheit entgleitet und ich schneller anfing zu flunkern, als ich denken konnte, und das auch in Situationen, in denen das völlig unnötig war. Das hat mich geängstigt. So wollte ich nicht sein. Du hast für dich einen anderen Weg gefunden, der auch gut ist, offenbar.… Weiterlesen »
Vielen Dank für diesen wertvollen Artikel!
Großartig! Diesen Artikel über deine Wahrheitspraxis werde ich mir zwar nicht ausdrucken und aufhängen, ABER ihn als Anstoß nutzen, um das umzusetzen. Die Idee trifft nämlich einen Punkt, der mich seit geraumer Zeit beschäftigt… Die Idee, einfach meine Wahrheit auszusprechen, kam mir beim Nachdenken darüber immer so gewagt vor, als würde ich mir damit sonstwas für Freiheiten herausnehmen. Bei den „White Lies“ und überhaupt unauthentischen Haltungen möchte ich allerdings auch nicht bleiben. Ein wunderbarer Ansporn, danke dafür!
[…] in meinem eigenen Blog nicht neutral sein. Aber da ich vor ein paar Jahren beschlossen habe, mich wacker mit Ehrlichkeit durchs Leben zu schlagen, bin ich sehr froh gewesen, schon nach wenigen Seiten Lektüre von Patricias Buch sehr angetan […]
[…] In meinen Mitt-20ern log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Heute, und seit einigen Jahren, ist die Wahrheit zu sagen meine oberste Maxime. Das einzige, was immer gleich war in meinem Leben, ist dass ich gerne gelesen habe. Dass ich ohne […]
[…] und wie du dir vielleicht denken kannst, auch ein bisschen schräg – denn bei mir wird „Immer schön bei der Wahrheit bleiben, das ist am einfachsten“ praktiziert, auch den Kindern gegenüber. Wie schräg findest du denn meinen Ansatz, Hand aufs […]