Mir geht gerade sehr die Hutschnur hoch. Ich möchte manche Leute schütteln, damit sie zur Besinnung kommen. Aber so funktioniert das ja nicht, und es wäre Gewalt. Also frage ich ganz laut hier im Internet in die Runde, sagt mal Leute, merkt Ihr denn gar nicht, was gerade passiert!?
Ich sehe, wie Realität und Filterblase immer weiter auseinanderdriften, wie Leute sich nur noch mit Meinungen umgeben, die ihrer eigenen Position gleichen, sie sich abkapseln. Vielleicht fällt mir das besonders deutlich auf, weil ich mit vielen verschiedenen Menschen zu tun habe, unter anderem durch das Stadtratsamt, und Kontakt zu Menschen habe, die dermaßen anders denken als ich, dass mir gelegentlich die Kinnlade herunterfällt. Und ich finde dieses Auseinanderdriften gefährlich.
Beispiel „Klaps und Ohrfeige“ beim Kind
In meiner Filterblase im Internet und im Freundeskreis ist völlig klar, dass man Kinder nicht schlägt. Anschreien ist auch Gewalt. Und wer, wie ich in einem Blogpost vor 2 Jahren, zugibt, dass „es“ doch 1 Mal passiert ist und ein Kind eine Ohrfeige bekam, wird massiv angegriffen. Zur Erziehungsberatung solle ich, mir Hilfe holen, schrieben mir einige. Du meine Güte, was für Leute kennen die?, fragte ich mich damals. Denn ich bin sowas von bewusst in allem was Gewalt betrifft, dass sie absolut die Falsche anklagen, hier dauerhaft und massiv zu versagen.
Im echten Leben, so heute auf dem Schulhof passiert, nachdem ich eine sehr übellaunige, zeternde, morgenmuffelige Jüngste endlich (selbstredend gewaltfrei) in der Schule abgliefert hatte, sagen Eltern Sätze wie „Also ein Klaps auf den Po hat noch nie geschadet“ oder „Du musst deinen Kindern halt öfter mal eine auf den Hintern geben, dann spuren sie auch besser“ und gucken einen mit großen Augen an, wenn man entgegnet, dass es heutzutage verboten ist, seine Kinder zu schlagen.
Man kann froh sein, wenn es überhaupt schon zu anderen vorgedrungen ist, dass Kinder ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben. Für die einen ist nicht vorstellbar, sein Kind überhaupt zu ohrfeigen, und dass es Menschen gibt, die noch nie davon gehört haben, dass im Grundgesetz steht, dass Kinder schlagen verboten ist. Und die anderen wissen nicht einmal, dass man über so etwas diskutieren kann. Weil es für sie so normal ist.
Beispiel Rassismus
Und dann bekomme ich Briefe und E-Mails im Rahmen meiner Tätigkeit als Stadträtin. Da stehen Dinge drin, die sich niemand ausdenken kann, so absurd sind sie. Es geht dieser Tage viel um Flüchtlinge, und ob sie für uns gefährlich sind – unter dem Deckmantel der Besorgnis, dass so ein Moslem (Fehlannahme 1 = alle Geflüchteten sind Moslems) denn damit umgehen könne, dass hier im Sommer Menschen leichtbekleidet baden (Fehlannahme 2 = Geflüchtete sind durch die Bank konservativ und streng religiös), und dass „unsere Kinder“ nun nicht mehr sicher seien, wenn sie ins Strandbad gingen.
Ich erhalte Mails, in denen von Keuschheit, Tugenden und einem „Fleischmarkt“ die Rede ist, die sich auf das Strandbad und die in der Nähe geplante Flüchtlingsunterkunft beziehen. Und im Rat hörten wir vergangene Woche einen besorgten Bürger, der hunderte von Unterschriften gesammelt hatte, damit die Konstanzer vor den Geflüchteten geschützt würden, die eine Gefahr darstellten, und die fast zwangsläufig nach dem Anblick von Menschen in Badebekleidung zu Vergewaltigern werden würden (Fehlannahme 3 – und genau deswegen war es so wichtig, dass #Ausnahmslos ins Leben gerufen wurde!)
Im Gegensatz dazu wurde ich im Frühling 2015 in der Filterblase ausgebuht und es gab ausufernde Diskussionen auf meiner Facebookseite, als ich bekannte und dazu stand, dass meine Kinder sich zu Fasnacht als Indianer verkleiden dürfen, falls sie das wollen (rassistisch! Böse!). Da ist verrückt, wirklich. Die wahren Rassisten machen sich über solche Dinge überhaupt keine Gedanken, sie verurteilen in viel größerem Maße.
Beispiel Sexismus/sexualisierte Gewalt
In der Filterblase werde ich gelegentlich gerügt, weil ich keine gegenderte Sprache benutze. Ich sag’s mal so: gegenderte Sprache finde ich ehrenhaft und sie stört mich nicht, aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Obwohl ich ein Bewusstsein für Sprache habe, immerhin bin ich studierte Sprachwissenschaftlerin, und obwohl ich die Argumente kenne, die für gegenderte Sprache sprechen. Trotzdem erlaube ich mir, mich als Feministin zu bezeichnen. Was gegenderte Sprache ist und dass es sie überhaupt gibt, dürften allerdings nur wenige außerhalb der Filterblase wissen.
Im echten Leben fragt ein netter älterer Herr, als das Gespräch auf #Köln kommt, sehr skeptisch, warum denn all diese Frauen erst so spät auf die Idee gekommen seien, die Täter anzuzeigen. Das könne doch wohl nicht mit rechten Dingen zugehen. Und ein zu kurzer Rock oder eine offene Bluse gilt vielen immer noch als Grund, der Frau die Schuld daran zu geben, dass sie angegrabscht wurde. Zwischen Filterblase und Real Life liegen Welten.
Fazit: Warum ich mir Sorgen mache
Ich bin besorgt. Immer mehr Leute ziehen sich verschreckt in ihre Filterblase zurück, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, was wirklich „draußen“ abgeht. Es reicht nicht, wegzugucken, ein paar Petitionen zu unterschreiben, auf „Beiträge verbergen“, „entfreunden“ oder „mute“ zu klicken, wenn einem rassistisches oder sexistisches Gedankengut in die TL gespült wird.
Und es ist vor allem ganz und gar kontraproduktiv, die anzugreifen, die sowieso reflektiert sind und bereit dazu sind, ihre Position zu überdenken. Das nützt höchstens etwas, um den Drang, etwas zu ändern, umzulenken. Und es ist natürlich nichts, was diejenigen erreicht, die ganz am anderen Ende der Meinungsskala stehen.
Die finden Geflüchtete nämlich weiterhin Scheiße und Gewalt gegen Kinder völlig in Ordnung. Menschen mit extremen Positionen überzeugt man eh nicht mehr – aber die große gesellschaftliche Mitte, um die können wir uns kümmern. Es ist im Grunde wie bei den „Mommy Wars“ – diejenigen, deren Positionen große Übereinstimmungen haben, sollten zusammenhalten anstatt aufeinander loszugehen, und das nach außen deutlich sichtbar machen. Nur so bewegt man etwas.
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22 Kommentare auf "Gewalt, Flüchtlinge, Sexismus – Filterblase und Realität"
Schön geschrieben, ich bin durchweg deiner Meinung.
Liebe Grüße & alles Gute
Kathrin
Ich weiß es auch nicht, Dr. Mo. Vielleicht kleine Dinge. Was man tun kann, ist zu Gemeinderatssitzungen und anderen Bürgerversammlungen gehen, damit dort nicht die radikalen Meinungen überwiegen und lautstark den Eindruck vermitteln, sie seien hier die Mehrheit und „Das Volk“. Das empfände ich schon als extrem hilfreich fürs Klima und auch die Diskussionskultur.
Liebe Evelyn,
ich bin nicht sehr firm in Geschichte. Aber ich las kürzlich Angelika von Schrobsdorffs „Du bist nicht so wie andere Mütter“, und wenn ich dieses realitätsnahe Buch für bare Münze nehme, was man wohl kann, dann war genau das der Fall – die Intellektuellen ignorierten das Problem so lange, bis es zu spät war. Sie blieben, genau wie du vermutest, in ihrer Filterblase. Rückzug. Und wohin das führt, hat man ja gesehen.
Viele Grüße und vielen Dank für den Kommentar!
Christine
Vielleicht ist sie uns auch schon weggebrochen, die Mitte. Ich hoffe nicht, dass es überall so ist, wie du beschreibst, Dirk. Hier in Konstanz habe ich nicht den Eindruck, immerhin. Aber die Mitte schweigt. Und zieht sich zurück.
Viele Grüße und danke für den Kommentar!
Christine
Einspruch. Es gibt einen Unterschied zwischen „Selbstschutz“ und „sich abschotten“. Selbstschutz ist völlig in Ordnung. Aber mein Eindruck ist, dass es viele damit gerade übertreiben. Ich lese öfter mal auf twitter, die Leute wollen keine Nachrichten mehr schauen. Ich mag das auch nicht immer. Aber ein gewisses Maß an Informiertheit durch neutrale Quellen halte ich schon für wichtig.
Das mit den „wahren Rassisten“ lasse ich mir nochmal durch den Kopf gehen. Mein Problem damit war (Indianer), dass ich zu einem gemacht wurde. Und tatsächlich so weit weg davon bin wie eventuell 95% der Bevölkerung nicht. Ich finde, das sind Nebenkriegsschauplätze.
Liebe Bianca,
oh, ich denke schon, dass es etwas anderes ist, ob man in seiner Filterblase bleibt oder ob man versucht, die schweigende, sich wegduckende Mitte noch zu erreichen. Das Problem ist, dass die radikalen Ansichten oft so laut vertreten werden. Und ich meine, da sollte man etwas gesunden Menschenverstand entgegensetzen. Und sich genau dazu zusammenrotten. auch wenn man sich vielleicht als unpolitisch sieht oder eher leise und unaufdringlich ist.
Viele Grüße!
Christine
„und dass es Menschen gibt, die noch nie davon gehört haben, dass im Grundgesetz steht, dass Kinder schlagen verboten ist“
Echt? Wo?
Mein Fehler. Das steht, wie ich gelernt habe, nicht im Grundgesetz, sondern im bürgerlichen Gesetzbuch – jedenfalls ist es seit 2000 verboten:
„Das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde in Deutschland im Jahr 2000 (durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)) ersatzlos abgeschafft: durch die Verschärfung des § 1631 BGB (Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung) haben Kinder das ausdrückliche „Recht auf gewaltfreie Erziehung“: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“.
https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6rperstrafe
[…] raus, um meinen Kopf leerzuschreiben, entschuldigt, wenn es konfus wird: Gestern schrieb Mama Arbeitet über die Filterblase und das Auseinanderdriften mit der Realität. Sehe ich schon lange genauso, habe es aber zuletzt andersrum gehandhabt. Bewusst habe ich mich in […]
Danke Petra, und viele Grüße!
[…] Christine Finke alias “Mama arbeitet” macht in diesem Posting auf ein Problem aufmerksam, das mir auch schon aufgefallen ist. In gewissen Dingen driften unsere digitale soziale Umwelt und die Realität gnadenlos auseinander: Gewalt, Flüchtlinge, Sexismus – Filterblase und Realität. […]
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